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Nun wollen wir einmal zusehen, wie Du, Prachtmensch, diese Sitte ausgenutzt hast. Als Unterpfand der zukünftigen Ehe hast Du in jener verehrungswürdigen Höhle von der Unglücklichen Haare und ein Schweißtüchlein entgegengenommen. Du trägst einen S. 375 Gürtel als Unterpfand ihrer Liebe und gabst ihr die eidliche Versicherung, niemanden so wie sie zu lieben. Dann läufst Du zu der Stätte der Hirten, und während über ihr die Engel laut singen, legst Du den gleichen Schwur ab. Von den Küssen und Umarmungen will ich gar nicht weiter reden. Bei Dir ist ja alles möglich, aber die Ehrfurcht vor der Krippe und vor der Heiligkeit des Ortes legen mir nahe, anzunehmen, daß es bei der Absicht und dem bösen Willen geblieben ist. Du Elender, ist es Dir denn nicht schwarz vor den Augen geworden, als Du mit der Jungfrau in der Höhle standest? Wurde Deine Zunge nicht gelähmt? Fielen Dir die Arme nicht herunter? Stockte nicht der Atem in Deiner Brust? Wankten nicht Deine Füße? In der Basilika des hl. Petrus 1 ist sie durch den Brautschleier Christi geweiht worden. An den geheimnisvollen Stätten der Kreuzigung, der Auferstehung und der Himmelfahrt des Herrn hatte sie erneut ein klösterliches Leben gelobt. Da wagst Du es, ihr Haar, das sie in der heiligen Höhle für Christus abgeschnitten hatte, zum Zeichen des Einverständnisses gemeinsamer nächtlicher Sünde entgegenzunehmen? Dann belagerst Du vom Abend bis zum Morgen ihr Fenster, und weil ihr wegen seiner Höhe einander nicht nahe genug kommen konntet, ging die Post an einer Schnur hinauf und herunter. Wie angebracht war die Vorsicht der Vorsteherin, die dafür sorgte, daß Du die Jungfrau nur in der Kirche sehen konntest! Obwohl Ihr beide schlimme Absichten hegtet, konntet Ihr Euch nur durch das nächtlich geöffnete Fenster unterhalten. Wie ich später erfuhr, dauerte dies solange, bis Dich die Sonne als ungebetener Gast überraschte. Erschöpft, matt und bleich lasest Du dann, um Jeden Verdacht abzulenken, als Diakon das Evangelium Christi. Wir führten Deine Blässe auf das Fasten zurück. Wir wunderten uns darüber, daß entgegen Deiner sonstigen Übung und Gewohnheit Dein Gesicht so blutleer S. 376 aussah, wie wenn Du Dich in Nachtwachen verzehrt hättest. Schon hieltest Du eine Leiter bereit, um die Unglückliche herabzuholen. Der Reiseplan war fertig, die Schiffsroute festgelegt, der Tag angesetzt, die Flucht im Geiste bereits ausgeführt. Aber jener Engel, der Pförtner an Mariens Kammer, 2 der Wächter an der Wiege des Herrn und Schützer des Jesuskindes, vor dessen Augen Du dies alles tatest, ist Dir zum Verräter geworden.
