12.
Dieses ist es, was notwendig vorauszuschicken war. Wir haben uns nun zu den Gottesworten selber zu wenden und all das besondere, das in ihnen enthalten ist, zu ermitteln. Die zehn nun, die es sind, teilte Moses in zwei Reihen von fünf, die er in zwei Tafeln eingrub; die erste Reihe erhielt dabei den Vorrang, die andere den zweiten Rang. Schön von Inhalt und dem Leben zum Nutzen sind beide, denn sie öffnen breite Heerstrassen des Lebens, die auf ein Ziel hinausgehen, auf denen es eine Wanderung ohne Straucheln gibt für die Seele, die stets das Beste will. Die vorzüglichere Reihe von fünf Geboten enthält die folgenden Lehren: über die Alleinherrschaft in der Welt; über Schnitz- und Gusswerke und überhaupt von Menschenhand gefertigte Götzenbilder; über das leichtfertige Aussprechen des Namens Gottes; über die Heilighaltung des siebenten Tages; endlich über die Ehrfurcht gegen Eltern und zwar sowohl gegen eines der beiden Eltern wie gegen beide zusammen. So ist der Anfang der einen Tafel Gott, der Vater und Schöpfer des Alls, und das Ende die Eltern, die in Nachahmung des Wesens Gottes die Einzelmenschen erzeugen. Die zweite Reihe umfasst dann die sämtlichen Verbote: die des Ehebruchs, des Mordes, des Diebstahls, des falschen Zeugnisses, der unlauteren Begierden.
Es ist nun sorgfältigst auf jedes dieser Gottesworte einzugehen und keines von ihnen oberflächlich zu behandeln. Der erhabenste Anfang von allem, was existiert, ist Gott, und von den Tugenden ist es die Gottesfurcht; also wird notwendigerweise davon zuerst zu handeln sein. Ein Irrtum nun, und kein geringer, hält die meisten Menschen gefangen in einer Sache, die allein oder mehr als alles im Geiste aller völlig ohne Unsicherheit feststehen sollte. Es vergöttern nämlich die einen die vier Elemente, Erde, Wasser, Luft und Feuer (Über Vergötterung der 4 Elemente im Altertum vgl. Diels, Elementum S. 45 ff.), andere die Sonne, den Mond und die anderen Gestirne, Planeten und Fixsterne, andere wieder nur den Himmel, andere endlich das ganze Weltall. Den Höchsten und Vorzüglichsten aber, den Schöpfer, den Regierer des Grossstaates, den Führer des unbezwinglichen Heeres, den Steuermann, der beständig das Ganze zum Heile lenkt, verdunkeln sie, indem sie jenen (vermeintlichen Göttern) falsche Namen gehen, die einen diese, die anderen jene (Philo wendet sich im folgenden gegen die stoische Theologie, die durch Allegorie die hellenischen Götter in kosmische und physikalische Erscheinungen auflösen wollte. Philo lehnt sich dabei an die Polemik an, die die akademischen Skeptiker (insbesondere Karneades) gegen die Stoiker führten. Vgl. auch De vita contempl. II p. 472 M. und Weish. Salom. XIII 2.). So nennen manche die Erde Kore, Demeter, Pluto, das Meer Poseidon, dem sie dazu Unterstatthalter andichten, Meergottheiten und ein grosses Gefolge von männlichen und weiblichen Dämonen; die Luft nennen sie Hera, das Feuer Hephaestos, die Sonne Apollo, den Mond Artemis, den Morgenstern Aphrodite und den Stilbon (Glanzstern) Hermes. Und so haben auch jedem der übrigen Gestirne die Mythendichter die Namen gegeben, die jene künstlichen Gebilde nur zur Täuschung für das Ohr ersonnen haben und damit in der Namengebung Aus-gezeichnetes geleistet zu haben wähnen. So teilten sie weiter den Himmel in Hemisphären, die eine über der Erde, die andere unter der Erde, nannten sie Dioskuren und erdichteten dazu die Erzählung von ihrem nur einen Tag um den andern währenden Leben (Homer Odyss. XI 303. Pindar Nem. X 55. Die allegorische Deutung der Dioskuren auf die beiden Hemisphären erwähnt auch Sextus Empiricus adv. mathem. IX 37, der zugleich dabei die Homerstelle citirt.). Denn da der Himmelsball sich beständig und unaufhörlich im Kreise bewregt, muss notwendig jede der beiden Hemisphären täglich ihre Stellung wechseln und nach oben und unten zu stehen kommen, freilich nur dem Anscheine nach; denn oben und unten gibt es in Wahrheit bei der Himmelssphäre nicht, nur nach unserer Stellung dazu pflegen wir das, was über unserm Kopfe ist, „oben" und das Entgegengesetzte „unten" zu nennen. Dem nun, der beim Philosophieren nur die Wahrheit sucht und unverfälschte, reine Gottesfurcht erlangt, gibt er die schönste und frömmste Lehre, keinen der Teile der Welt für einen selbständigen Gott zu halten. Denn jeder ist einmal entstanden; Entstehen aber ist der Anfang von Vergehen, und wäre das Betreffende auch von der Vorsehung des Schöpfers zur Ewigkeit bestimmt, denn es gab eine Zeit, da es nicht war. Von Gott aber zu sagen, dass er vorher nicht war und erst von einer gewissen Zeit an geworden und dass er nicht ewig sei, ist frevelhaft.
