28.
Zuletzt verbietet er (fremdes Gut) zu begehren, in der Erkenntnis, dass die böse Begierde zur Neuerungssucht führt und Schaden anrichtet. Wohl sind alle Leidenschaften der Seele von Übel, sie versetzen sie in unnatürliche Bewegung und Unruhe und lassen sie nicht gesund (Nach der stoischen Lehr verursachen die Affekte (Lust, Schmerz, Furcht und Begierde) eine Störung und Krankheit der Seele, darum sind sie wider die Natur: Zeno frg. 136. 138.), am schlimmsten aber ist die böse Begierde; denn (Für διό ist διότι zu lesen. [L. C]) jede andere (Leidenschaft), die von aussen wie durch eine Tür hereinkommt und uns überfällt, scheint unfreiwillig zu sein, nur die Begierde geht von uns selbst aus und ist also freiwillig. Wie ist das zu verstehen? Die Vorstellung von einem vorhandenen und dafür gehaltenen Glücke weckt und erregt die sonst ruhige Seele und richtet sie hoch auf, ebenso wie ein aufflammendes Licht die Augen; man nennt diese Empfindung der Seele Lust (Nach der Definition der Stoiker ist die Lust eine (unvernünftige) Hebung der Seele (ή ηδονή έστιν άλογος επαρσις τής ψυχής): Zeno frg. 139. Diog. La. VII, 114.). Wenn aber das Gegenteil des Glücks, das Unglück, plötzlich hereinbricht (Für ἐκβιασάηενον ist ἐισβιασάηενον zu lesen. [L. C.]) und der Seele einen harten Schlag versetzt, erfüllt es sie gleich wider ihren Willen mit Sorge und Betrübnis; dieses Gefühl heisst Schmerz. Wenn aber das Unglück noch nicht eingetroffen ist und noch nicht drückt, aber zu kommen droht und sich bereits ankündigt, schickt es Unruhe und Angst als Unglücksboten voraus, die sie in Schrecken versetzen; Furcht heisst diese Empfindung. Wenn dagegen einer den Gedanken an ein Glück gefasst hat, das noch nicht da ist, und den starken Wunsch hat es zu erlangen, da treibt er die Seele zu weit entferntem Ziele an, und in seinem heftigen Verlangen, das ersehnte (Glück) zu fassen, wird er wie auf die Folter gespannt, weil er eifrig bemüht ist, es zu greifen, und doch nicht imstande es zu erreichen, und so etwa dasselbe erfährt wie die, welche die Zurückweichenden wohl mit unüberwindlichem Eifer, aber nicht mit zureichender Schnelligkeit verfolgen. Etwas Ähnliches scheint auch bei den sinnlichen Wahrnehmungen stattzufinden. Oft wenn die Augen einen sichtbaren Gegenstand, der sehr weit entfernt ist, gern wahrnehmen möchten, strengen sie sich über die Massen an; da sie aber weiter vordringen wollen, als ihre Kraft reicht, fällt ihr Blick ins Leere und sie bringen sich so um die genaue Wahrnehmung des Gegenstandes und werden obendrein durch die gewaltsame Anspannung beim starren Sehen in ihrer Sehkraft geschwächt und getrübt. Ebenso wenn ein undeutlicher Ton aus weiter Entfernung kommt, richten sich die Ohren gespannt dahin und verlangen möglichst nahe heranzukommen, damit der Ton dem Gehör vernehmlicher werde. Dieser aber dringt natürlich nur schwach ins Ohr und will sich noch immer nicht deutlicher erkennen lassen. Die Folge davon ist, dass das unbefriedigte und erfolglose Verlangen, (den Ton) zu verstehen, nur noch grösser wird und die Begierde Tantalusqualen verursacht; so oft dieser nämlich etwas greifen wollte, wonach er verlangte, tat er einen Fehlgriff; ebenso wird jeder, der von einer Begierde beherrscht wird und stets nach Dingen dürstet, die nicht da sind, niemals Befriedigung finden und immer in eitlem Verlangen sich winden. Und wie die schleichenden Krankheiten, wenn ihre Ausbreitung nicht durch Schneiden oder Brennen aufgehalten wird, schnell den Körper in seinem ganzen Umfange erfassen und nichts heil an ihm lassen, so wird sich auch, wenn nicht die durch Philosophie gestärkte Vernunft gleich einem guten Arzte die Begierde in ihrem Laufe hemmt, alles im Leben notwendig entgegengesetzt dem natürlichen Verlaufe bewegen. Denn es gibt nichts, was von dieser Leidenschaft verschont bleibt und ihr entgeht; denn sobald sie einmal die volle Macht über einen hat, verbreitet sie sich über alles und jedes und richtet überall Schaden an. Es ist vielleicht töricht, lange zu reden von Dingen, die so offenkundig sind; denn wo gibt es eine Person oder eine Gesamtheit, die diese Dinge nicht kennt, da sie nicht nur jeden Tag, sondern so zu sagen jede Stunde deutliche Beweise von sich geben? Sind etwa Geldgier oder Verlangen nach einem Weibe oder nach Ruhm oder nach irgend einem andern Gegenstande, der Vergnügen macht, die Ursache nur kleiner und gewöhnlicher Übel? Werden nicht dadurch Verwandte erzürnt, so dass ihre natürliche Zuneigung zueinander sich in unheilbare Feindschaft verwandelt? Werden nicht grosse und volkreiche Länder infolge davon durch innere Unruhen entvölkert? Sind nicht Land und Meer voll von stets sich erneuernden Leiden durch die Verheerungen, die See- und Landheere (Für ναυμαχίαις ist ναυμαχικαις zu lesen. [L. C.]) anrichten? Die tragischen Kämpfe der Hellenen und Barbaren, die sie unter sich und gegeneinander geführt haben, sind doch alle aus der einen Quelle geflossen, der Begierde nach Schätzen oder Ruhm oder Sinneslust, denn auf diese Dinge ist die Sorge des Menschengeschlechts gerichtet.
