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Vor zwei Richterstühlen also, die es allein auf Erden gibt, werden sie — das sollen sie wohl wissen — schuldig gefunden, schuldig der Gottlosigkeit in dem göttlichen Gericht, da sie die, welche sie aus dem Nichtsein ins Sein hinübergeführt und solcherweise Gott nachgeahmt haben, nicht ehren, und schuldig der Feindschaft gegen die Menschen in dem Menschengericht. Denn wem werden denn sonst noch die wohltun, die die nächsten Verwandten missachten, die ihnen die grössten Geschenke dargereicht haben, Geschenke zum Teil so gross, dass sie gar nicht vergolten werden können (Der bei Philo öfter wiederkehrende Gedanke, dass die Kinder nicht imstande sind den Eltern die empfangenen Wohltaten voll zu vergelten, findet sich beispielsweise auch bei Aristoteles, Nikom. Ethik VIII 16 p. 1163 b 17. Auch Jesus Sirach VII 28 begründet seine Mahnung, Vater und Mutter zu ehren, mit den Worten: „sei dessen eingedenk, dass du durch beide entstanden bist, und wie könntest du ihnen zurückgeben so, wie sie dir gegeben?")? Denn wie vermöchte einer, der Leben empfangen hat, seinen Erzeugern Leben wiederzugeben, da die Natur den Eltern damit eine besondere Gabe den Kindern gegenüber verliehen hat, für die es kein Wiedererstatten gibt? Darum darf man auch im höchsten Grade empört sein, wenn Kinder, die doch nicht alles wiedererstatten können, nicht das geringste von Liebe ihren Eltern erweisen wollen. Solchen hätte ich, wie sich's gebührt, zu sagen: Tiere müssen gegen Menschen zahm gemacht werden; oft schon sah ich Löwen, Bären, Panther zahm, nicht nur gegen die, die sie füttern, zum Dank für die unentbehrliche Nahrung, sondern auch gegen andere, ich meine, wegen der Ähnlichkeit mit jenen; denn immer ist es gut, dass die niedere Gattung der höheren gehorche, weil das Hoffnung gibt auf Verbesserung der Art. Nun aber werde ich gezwungen sein im Gegenteil zu sagen: ihr Menschen, ahmet doch das Beispiel einiger Tiere nach! Diese wissen und haben gelernt ihren Wohltätern Gegendienste zu erweisen: Haushunde verteidigen ihre Herren und lassen sich für sie töten, wenn plötzlich eine Gefahr eintritt; vollends von den Hunden, die bei den Herden verwendet werden, erzählt man, dass sie bei der Verteidigung der Tiere ausharren bis zum Siege oder bis zum Tode, um die Herdenführer vor Schaden zu bewahren. Ist es nun nicht die allergrösste Schande, wenn der Mensch sich in Erwiderung von Wohltaten vom Hunde übertreffen lässt, das edelste Geschöpf vom frechsten der Tiere? Wollen wir uns aber nicht von den Landtieren belehren lassen, so mögen wir uns zu der die Lüfte durchsegelnden Vogelwelt wenden, um von ihr zu lernen, was wir sollen. Bei den Störchen bleiben die Alten im Nest, wenn sie nicht mehr fliegen können, und ihre Jungen fliegen beinahe (möcht' ich sagen) über Land und Meer und bringen von allen Seiten den Eltern die Nahrung (Die Fürsorge der jungen Störche für die alten war bei den Griechen sprichwörtlichl. Vgl. Aristoph. Vögel 1353ff. Aristot. Tiergeschichte IX 13. Es gab dafür ein charakteristisches Wort άντιπελαργεϊν (für Wohltaten dankbar sein wie ein Storch).). So geniessen die einen, wie es ihrem Alter zukommt, in Ruhe, was sie brauchen, und haben immer Überfluss daran, während die anderen die Mühe der Beschaffung des Futters leicht nehmen und aus Pietät und in der Erwartung, dass sie im Alter das Gleiche von ihrer Brut erhalten werden, nur eine notwendige Schuld zurückzahlen; zu rechter Zeit haben sie sie empfangen und erstatten sie sie zurück, zu der Zeit nämlich, wo beide sich nicht selbst ernähren können, die Jungen am Anfang bald nach ihrer Geburt, die Eltern am Ende ihres Lebens. Darum folgen sie von selbst der Natur als Lehrmeisterin und ernähren die Eltern gern, nachdem sie selbst als Junge von ihnen gefüttert worden sind. Müssten nun nicht Menschen, die der Sorge um die Eltern sich entschlagen, um solcher Beispiele willen ihr Haupt verhüllen und sich selbst Vorwürfe machen, dass sie die vernachlässigen, für die sie allein oder doch vor allem zu sorgen hätten, zumal sie dabei nicht sowohl geben als vielmehr zurückgeben; denn nichts gehört den Kindern, was sie nicht von den Eltern haben (Derselbe Gedanke bei Plato Gesetze IV p. 717 b.), sei es dass sie es ihnen von Hause aus gegeben oder dass sie ihnen die Möglichkeit es zu erwerben verschafft haben. Hätten nun solche noch Gottesfurcht und Frömmigkeit, diese obersten Tugenden, in der Seele? Nein, sie haben sie verbannt und verjagt. Denn nur Diener Gottes sind für die Kindererzeugung die Eltern; wer aber den Diener missachtet, missachtet damit auch den Herrn. Manche aber gehen sogar noch weiter in der Verherrlichung des Elternnamens und sagen, dass Vater und Mutter sichtbare Götter sind (Die Vergleichung der Eltern mit den Göttern, insofern das Verhältnis der Eltern zu den Kindern als ähnlich dem Verhältnis der Gottheit zur Welt bezeichnet wird, ist in der griechischen Philosopie allgemein. Vgl. auch De spec. leg. II § 225. Die Bezeichnung der Eltern als Götter zweiten Ranges (δεύτεροι) oder als sichtbare oder irdische Götter (έμφανεϊς oder επίγειοι θεοί) ist spezielle Ausdrucksweise der stoischen Popularphilosophie. Vgl. K. Praechter, Hierokles der Stoiker S. 45 ff.), weil sie den Unerschaffenen nachahmen im Erzeugen von lebenden Wesen, nur dass jener Gott der Welt ist, diese aber blosss (die Götter) derer sind, die sie erzeugt haben, unmöglich aber ist es, dass die Ehrfurcht haben vor dem Unsichtbaren, die denen die Ehrfurcht versagen, die sichtbar und ihnen nahe sind.
