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1. Ob man nun überhaupt heiraten oder sich der Ehe gänzlich enthalten soll (denn auch dies ist ein Gegenstand der Untersuchung), das haben wir in der Schrift über die Enthaltsamkeit 1 dargelegt. Wenn aber schon diese Frage selbst, ob man heiraten soll, der Erwägung bedurfte, wie könnte je gestattet werden, daß, wie man die Nahrung gebraucht, so jederzeit ohne weiteres auch den Geschlechtsverkehr wie etwas Notwendiges ausübt?
2. Jedenfalls kann man beobachten, wie unter seiner Wirkung die Nerven ähnlich wie Fäden am Webstuhl angespannt werden und bei der Anstrenung, die mit der Beiwohnung verbunden ist, zerreißen; ja er umhüllt auch die Sinne wie mit einem Nebel und lähmt auch die Kraft.
3. Das zeigt sich auch deutlich bei den unvernünftigen Tieren und bei denen, die ihren Körper für einen Wettkampf schulen; von den letzteren gewinnen in den Kämpfen die den Sieg über ihre Gegner, die sich (des Geschlechtsverkehrs) enthalten; die Tiere aber muß man nach der Begattung fortführen, indem man sie fortzieht, ja fast fortschleppt, da sie aller Kraft und alles eigenen Antriebs völlig beraubt sind. Eine „kleine Epilepsie“2 nannte der Weise aus Abdera den Beischlaf, da er ihn für eine unheilbare Krankheit hielt.
4. Sind nicht auch Ohnmachtsanfälle mit ihm verbunden, die auf die Größe des mit ihm verbundenen Verlustes zurückgeführt werden? „Denn ein Mensch wird aus einem Menschen herauserzeugt und mit Gewalt von ihm abgetrennt.“3 Siehe die Größe der Schädigung! Ein ganzer Mensch wird durch das, was im Beischlaf weggegeben wird, mit Gewalt abgetrennt. Denn es ist geschrieben: „Dies ist jetzt Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch.“4 Der Verlust, den der S. a102 Mensch durch den Samen erleidet, ist also so groß, wie der Mensch selbst in seiner körperlichen Erscheinung ist; denn das, was ausgeschieden wird, ist der Anfang neuen Lebens. Aber auch die Erschütterung des ganzen Organismus bringt große Unordnung mit sich und zerstört das harmonische Gefüge des Körpers.
