3.
Ihr aber vermögt nicht zu unterscheiden, was Gott durch seine Güte, was durch sein Gericht wirkt, da unser Psalm, in dem es heisst (Ps. 100,1): Von deinem Erbarmen und deinem Gericht will ich dir singen, Herr, eurem Herzen und eurem Mund gänzlich fremd ist. Und deshalb sprecht ihr, was immer ihr im Hinblick auf die Schwäche unserer sterblichen Natur anstössig findet, dem Urteils- und Richtspruch des wahren Gottes gänzlich ab. Dafür steht euch natürlich jener zweite, böse Gott zur Verfügung, den euch nicht die Wahrheit offenbart, sondern eure Einbildung vorgaukelt, dem ihr alles, was ihr an Unrecht tut, aber auch alles, was ihr zu Recht erleidet, anlasten könnt. So weist ihr Gott die gabenspendende Güte zu und entzieht ihm das strafende Richten, als ob Christus nicht vom selben Gott gesprochen hätte, der den Bösen das ewige Feuer bereitete (cf. Mt. 25,41), und der seine Sonne über den Guten und den Bösen aufgehen und über die Gerechten und die Ungerechten regnen lässt (cf. Mt. 5,45). Weshalb ihr nicht versteht, dass die so grosse Güte hier und die so grosse Strenge dort zum einen Gott gehören, liegt doch nur daran, dass ihr nicht imstande seid, von seinem Erbarmen und seinem Gericht zu singen (cf. Ps. 100,1)! Ist es nicht derselbe Gott, der seine Sonne über Guten und Bösen aufgehen und über die Gerechten und die Ungerechten regnen lässt (cf. Mt. 5,45), der aber auch natürlich gewachsene Zweige herausbricht und gegen die Natur den Wilden Ölbaum aufpfropft (cf. Rm. 11,17)? Sagt nicht der Apostel an jener Stelle (ib. 11,22) über diesen einen Gott: Du siehst also die Güte und die Strenge Gottes; seine Strenge gegen jene, die herausgebrochen wurden, seine Güte gegen dich, wenn du in seiner Güte verbleibst? Ihr habt es doch sicherlich gehört, ihr habt es sicherlich wahrgenommen, wie er weder Gott die Strenge des Gerichts noch dem Menschen den freien Willen entzieht! Es ist ein Geheimnis, es ist ein Abgrund, es ist in unzugänglicher Abgeschiedenheit dem menschlichen Denken entzogen (571,7), wie Gott den Pflichtvergessenen verurteilt, wie er den Pflichtvergessenen rechtfertigt; denn beides sagt die Wahrheit der Heiligen Schriften von ihm. Ist es etwa deshalb reizvoll, gegen Gottes Entscheidungen loszuziehen, weil sie so unergründlich sind? Wie viel passender, wie viel angemessener wäre es doch, in unserer Kleinheit an jener Stelle zu erschaudern, wo der Apostel erschauderte, und mit ihm auszurufen (ib. 11,33): O Tiefe des Reichtums Gottes an Weisheit und Erkenntnis! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! Wie viel besser wäre es doch, über das zu staunen, was du nicht zu ergründen vermagst, statt einen zweiten, bösen Gott zu erfinden, weil du den einen, guten nicht begreifen konntest! Es geht uns hier fürwahr nicht um die Benennung, sondern um die Funktion eurer Hyle (cf. 569,10).
