Zehnter Vortrag: Über die Stelle: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn...“ bis: „so geh zwei mit ihm“ Mt 5,38-41
Über die Größe der himmlischen Philosophie und die Kraft des Kriegsdienstes des Christen belehrt uns heute der Herr, indem er spricht: „Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so biete ihm auch die linke dar!“1 . Dies sieht als schwer nur an, wer die Größe des Lohnes der Geduld nicht kennt. Kann denn S. 66vielleicht einer durch seine Wunden den Siegeskranz erringen, der nicht einmal durch den Schlag der Hand die Krone erwerben will? Kann denn einer durch seinen Tod sich Ruhm erwerben, dem um Gottes Ehre willen menschliche Unbill schwer erscheint? Mensch, wirst du nicht durch solche Gebote an deiner Kindheit Lehrjahre erinnert? Schläge mit der Hand sind die Strafen für Kinder, nicht für Männer. Darum wird auch mit leichten Geboten der junge Christ2 angefeuert, damit dann die so aus der vollen Kraft des Evangeliums lebende Jugend übergehe zu den schweren Geboten; damit sie durch Anstrengungen, Mühen und selbst den Tod freudig zu erlangen strebe, was sie wegen der Kindheit durch geringfügige Leiden nicht erringen konnte. Damit aber auch bewiesen werde, dass seine Gebote nicht hart sind, wollen wir die Reihenfolge der Gebote selbst darlegen. „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn3 . Ich aber sage euch: wehret euch nicht gegen den Böswilligen, sondern wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so biete ihm auch die linke dar. Will jemand mit dir vor Gericht gehen und dir den Rock nehmen, so laß ihm auch den Mantel. Nötigt dich jemand, eine Meile weit zu gehen, so gehe zwei mit ihm.“4 .
„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist.“ Welchen Alten? Natürlich den Juden, die zu „Alten“ mehr machte die Bosheit als die Zahl der Jahre, die von der Wut der Rachgier so besessen waren, dass sie für das Auge das Haupt, für den Zahn die Seele forderten. Darum mußte ein Gesetz sie zügeln bei der rächenden Vergeltung, damit sie, die schuldige Verzeihung nicht kannten, wenigstens Maß hielten bei der Rache und nur so viel Vergeltung forderten, als die Gewalt des Rasenden ihnen Schaden zugefügt hatte.5 . S. 67Doch dies wurde zu den Alten gesagt; wir aber wollen hören, was uns, die wir durch die Gnade erneuert sind, die göttliche Güte befiehlt. „Ich aber sage euch.“ Wem? Den Christen. „Wehret euch nicht gegen den Böswilligen!“ Mit diesen Worten will er, dass wir nicht Fehler mit Fehlern vergelten, sondern durch Tugenden überwinden, dass wir den Zorn auslöschen, wenn er erste noch im Funken glimmt; denn wenn er kommt zu hellloderndem Wutbrand, läßt er sich ohne Blutvergießen nicht mehr stillen. Sanftmut besiegt den Zorn6 , Gelassenheit die Raserei; die Bosheit wird durch die Güte besiegt, die Grausamkeit7 wird niedergeworfen durch die Liebe, die Ungeduld wird bestraft durch die Geduld, die Streitsucht überwunden durch die Liebkosung, den Stolz wirft die Demut zu Boden. Wer also, Brüder, Fehler besiegen will, muß die Waffen der Liebe, nicht des Zornes führen. Obwohl nun aber der Weise einsehen kann, warum schon die Jugendzeit des Christen8 durch Unbill getrübt wird weil aber dennoch einige nicht einsehen, dass dies ein Zeichen der Kraft ist, dass es der Gipfel der Güte, die höchste Stufe der Liebe, das Werk göttlicher Lehrweisheit und nicht des Menschen Werk ist, dem Böswilligen nicht zu widerstehen, sondern das Böse im Guten zu überwinden9 , dem Schlagenden die Möglichkeit wieder zu schlagen nicht zu verweigern, dem, der den Rock nimmt, auch den Mantel zu lassen, und dem, der die Beute raubt, auch noch freigebig sich zu zeigen, dem, der uns nötigt, eine Meile zu gehen, auch noch zwei Meilen zu folgen, damit so der Wille den Zwang überwinde, die Liebe die Lieblosigkeit besiege, und damit dies sei die Tugend der Geduld, was die Gewalt des Zwingenden uns auferlege, weil dies alles schon beweist, wie der Soldat Christi durch Unbilden gekräftigt S. 68werde, so wollen wir dennoch, damit es uns klarer werde, tiefer schürfend erforschen, warum dies Gebot an uns ergangen ist.
Brüder, nachdem sich das Siechtum der Sünden, die Ruchlosigkeit der Laster, der Wahnsinn der Gottentfremdung über den menschlichen Geist ergossen hatten, ausgelöscht hatten alles, was ihm an [echter] Weisheit, [gutem] Sinn und [vernünftigem] Überlegen gegeben war, ließen sie die Heiden, die über die ganze Erde zerstreut waren, in wahnsinnig verblendeter Wut vor Gott fliehen, die Dämonen suchen, die Geschöpfe verehren, den Schöpfer schmähen, nach den Lastern verlangen, die Tugenden verabscheuen; der Mordlust wurden sie preisgegeben; sie stürzten sich in Wunden, lebendig weihten sie sich dem [geistigen] Tode. Nicht anders konnten daher die Menschen gerettet werden, als dass sie ausgerüstet und gewappnet wurden mit der ganzen Liebe und Geduld des himmlischen Arztes. So sollten sie, die am Wahnsinn litten, Unbilden ertragen, Schmähungen erdulden, Schläge aushalten, ihren Leib zerfleischen lassen bis sie nüchtern und aufrichtigen Sinnes zur geistigen Gesundheit zurückkehrten. Und so sollten sie lernen10 , ganz Gott zu suchen, vor den Dämonen zu fliehen, ihr Siechtum einzusehen, nach der Gesundheit Verlangen zu tragen, die Laster zu verwerfen, nach der Tugend zu streben, den Wunden, dem Blutvergießen, dem Selbstmord zu entsagen, vor ihnen zu fliehen und sie zu verabscheuen, und dafür das Leben zu erhalten. Und wenn einer noch tiefer erkennen will, was wir gesagt haben, wollen wir über die Handlungsweise der Ärzte zu euch reden. Geschieht es nicht, dass, oft wie der Brand der Ruhr in dem Menschen sich entzündet und das herrschende Fieber den Kranken zum Wahnsinn bringt, die Sinne sich verwirren, der Geist schwindet, Wildheit eintritt, menschliches Tun [geradezu] verschwindet und um nicht viele Worte zu machen die Raserei einzig lebt, wo der [dem] Mensch stirbt? Darum knirscht er mit den Zähnen, zerfleischt S. 69die Anverwandten, zerfleischt die besten Freunde; er schlägt um sich mit den Fäusten und beißt die ihn Pflegenden. Dann wappnet sich der Arzt zum Lobe der Tugend, zur Ehre der Kunst, zur Mehrung seines Rufes mit Geduld: er ergreift die Geduld, verachtet die Beleidigungen, hält diese Bisse aus, erträgt diese Mühen und leidet selbst nicht geringe Pein, um den Kranken von seiner Pein zu befreien. Er salbt ihn mit Öl, er pflegt ihn sorgfältig, gibt ihm Arznei ein, da er weiß, dass der Kranke ihm gern durch seine Dienste ehrenden Lohn wiedergeben wird, wenn er durch ihn die Gesundheit erlangt hat.
Und so frage ich euch: Gibt es wohl einen größeren Wahnsinn, einen schrecklicheren Wutausbruch, eine gleich große Raserei, als die Wange eines heiligen Menschen zu schlagen, das Antlitz eines sanftmütigen Bruders zu zerfleischen? als die Lieblichkeit eines geduldigen Antlitzes mit trübem Geifer zu besudeln, als den Menschen zu berauben des einzigen Kleides, das er trägt?11 als eines geringfügigen Gewinnes wegen Gott, dem Menschen, der Natur alles zu entziehen und nichts mehr der Scham zu lassen? den Menschen, der mit seiner Beschäftigung genug hat, eine Meile mitzugehen zu zwingen und die Qual eines andern zum eigenen Troste zu mißbrauchen? Brüder! Wenn wir erkannt haben, dass nur in schlimmster Verblendung Menschen solches tun, so wollen wir Christo gehorchen und die Bisse, Schläge, Quälereien solcher Menschen ertragen mit der ganzen Kraft der Liebe, damit wir unsere Brüder befreien von ihrer Pein und wir selbst erlangen den ewigen Lohn der Geduld. Der Knecht scheue sich nicht, dies von seinen Mitknechten zu ertragen, was der Herr von seinen Knechten anzunehmen nicht verschmäht hat: den Faustschlägen hat er sein Antlitz nicht entzogen12 ; dem, der ihm den Rock nahm, gab er auch seinen Mantel; dem, der ihn zum Frondienst [des Kreuztragens] zwang, folgte er freudig und gern zum Tode. Wenn also. Brüder, der Herr es für würdig hielt, zu S. 70leiden, wie sollte es unwürdig sein, dass der Knecht leide? Wir irren, Brüder, ja wir irren: wer nicht tut, was der Herr befiehlt, erhofft vergebens, was der Herr versprochen hat.
Mt 5,39 ↩
pueritia Christi ↩
Ex 21,24;Lev 24,20 ↩
Mt 5,38-41 ↩
Das ius talionis galt nicht für die private Ausübung der Rache, sondern nur für die gerichtliche Bestrafung ↩
vgl. Spr 15,1 ↩
es ist crudelitas statt credulitas zu lesen, wenn nicht impietas, ähnlich dem folgenden impatientia patientia punitur. ↩
Primordia Christi ↩
vgl. Röm 12,21 ↩
ich lese mit einigen Handschriften im Gegensatz zu Migne perdiscerent statt perficerent. ↩
Gibt es wohl einen größeren Frevel, ↩
Mt 26,67 ↩
