Zweiter Vortrag: Über die Stelle: „Mit der Geburt Christi verhielt es sich also...“ bis:„denn er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden.“ Mt 1,18-21
Heute, Brüder, werdet ihr hören, wie uns der hl. Evangelist das Geheimnis der Geburt Christi erzählt. „Mit der Geburt Christi“, heißt es, „verhielt es sich also. Als seine Mutter Maria mit Joseph verlobt war, fand es sich, ehe sie zusammenkamen, dass sie vom Hl. Geiste empfangen hatte. Joseph aber, ihr Mann, gedachte, da er gerecht war und sie nicht ins Gerede bringen wollte, sie heimlich zu entlassen“1 . Wie ist denn der gerecht, der glaubte, über die Schwangerschaft seiner Braut keine Untersuchung anstellen zu sollen, der nicht nachforschte nach der S. 23Ursache der eingetretenen Schande, der die Ehre des Ehebettes nicht rächt, sondern preisgibt?2 . „Er gedachte, sie heimlich zu entlassen.“ Ein solches Verhalten scheint mehr einem liebenden als einem gerechten Manne zu ziemen; doch so urteilt der Mensch, aber nicht Gott. Vor Gott gilt keine Liebe ohne Gerechtigkeit und keine Gerechtigkeit ohne Liebe; nach himmlischer Auffassung gibt es keine Rechtlichkeit ohne Güte und keine Güte ohne Rechtlichkeit. Sobald man diese Tugenden voneinander trennt, verfallen beide; Rechtlichkeit ohne Güte ist Rohheit und Gerechtigkeit ohne Liebe Grausamkeit.
Joseph war also in der Tat gerecht, weil er liebte, und er liebte, weil er gerecht war. Deshalb also war er frei von Grausamkeit, weil er die Liebe erwog; weil er die Angelegenheit in Ruhe überdachte, wahrte er sich sein Urteil; indem er die Strafe aufschob, entging er dem Verberechen; indem er dem Ankläger aus dem Wege ging, traf ihn auch nicht die Verurteilung. Gewiß klopfte ihm sein heiliges Herz, durch das unerhörte Ereignis gewaltig erregt; denn [vor ihm] stand seine Braut, schwanger und doch eine Jungfrau; sie stand da im Besitze ihres Leibessegens, doch ihrer Unschuld nicht beraubt; sie stand da, selbst in Sorgen wegen ihrer Empfängnis, aber ihrer Unversehrtheit gewiß; sie stand da vor ihm im Schmucke ihres Muttersegens, aber nicht entblößt der Ehre der Jungfräulichkeit. Was sollte der Bräutigam diesen Tatsachen gegenüber tun? Sollte er sie des Verbrechens anklagen? Aber er war doch selbst der Zeuge ihrer Unschuld! Sollte er sie für schuldig erklären? Aber er war doch selbst der Wächter ihrer Unschuld! Sollte er ihr Ehebruch vorwerfen? Aber er war doch selbst der Beschützer ihrer Jungfräulichkeit! Was sollte er also tun? Er gedenkt, sie zu entlassen, weil er sie einerseits nicht dem öffentlichen Gerede preisgeben, andererseits nicht das Geschehnis verheimlichen konnte. Er gedenkt, sie zu entlassen, und stellt das Ganze Gott anheim, weil er es einem Menschen nicht anvertrauen kann. S. 24Brüder! So laßt auch uns, so oft uns eine Sache beunruhigt, der Schein uns trügt, das Äußere der Angelegenheit uns das Innere nicht erkennen läßt, das Urteil vermeiden, die Straffe zurückhalten. das Verdammungsurteil nicht aussprechen, laßt uns das Gange Gott anheim geben, damit wir nicht, indem wir vielleicht leichtfertig über einen Unschuldigen die Strafe zu verhängen trachten, uns selbst ein Strafurteil sprechen, wie der Herr sagt: „Mit dem Gerichte, mit dem ihr richtet, werdet auch ihr gerichtet werden“3 .
Sicherlich wird, wenn wir schweigen, Gott re den; der Engel wird Antwort geben, der auch dem Joseph also [mit seiner Mahnung] zuvorkam, die Unschuldige nicht zu verlassen, indem er sprach: „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Weib, zu dir zu nehmen; denn was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste. Sie aber wird Mutter eines Sohnes werden, und du sollst ihm den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden“4 . „Joseph, Sohn Davids.“ Ihr seht, Brüder, dass mit der Person auch das Geschlecht genannt wird; ihr seht, dass in dem einen [d. i. Joseph] die ganze Verwandtschaft aufgezählt wird; ihr seht, dass in Joseph der ganze Stammbaum Davids erwähnt wird. „Joseph, Sohn Davids.“ Geboren aus dem achtundzwanzigsten Stamme5 : wie kann er anders Sohn Davids heißen, als weil [durch ihn] das Geheimnis der Geburt eröffnet, die Treue der Verheißung erfüllt, die übernatürliche Empfängnis der himmlischen Geburt im Schoße der Jungfrau bereits angezeigt wird? „Joseph, Sohn Davids.“ Mit diesem Worte war an David die Verheißung Gottes, des Vaters, ergangen:„Der Herr schwor David Wahrheit, und er wird sie halten: von deines Leibes Frucht will ich [einen] setzen auf deinen Thron“6 . Als schon geschehen rühmt er in diesem Psalme: „Es sprach der Herr zu meinem Herrn: S. 25Setze dich zu meiner Rechten“7 . „Von der Frucht deines Leibes“: ganz in Wahrheit eine Leibesfrucht, ganz recht aus dem Schoße einer Mutter; denn der göttliche Gast, der Bewohner des Himmels, stieg so herab in die Wohnung des Schoßes einer Mutter, ohne das Siegel des Leibes zu verletzen; so ging er aus der Wohnung des Schoßes hervor, ohne dass die jungfräuliche Pforte sich öffnete, so dass in Erfüllung ging, was gesungen wird im Hohen Liede:
„Ein verschlossener Garten bist du, meine Schwester, meine Braut; ein verschlossener Garten, eine versiegelte Quelle“8 . „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht!“ Der Bräutigam wird ermahnt, wegen der Umstände der Braut nicht zu fürchten; denn ein wahrhaft liebendes Gemüt fürchtet mehr, wenn es mit [anderen] leidet. „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht!“: wenn du sicher bist über ihre Unschuld, unterliege nicht ob der Unkenntnis dieses Geheimnisses! „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht!“ Was du an ihr siehst, ist Tugend, kein Verbrechen; hier liegt kein menschlicher Fehltritt, sondern göttlicher Einfluß9 vor; hier ist Belohnung, keine Schuld; hier ist ein Geschenk des Himmels, nicht eine Schwächung des Körpers10 ; hier findet keine Bloßstellung einer Person statt, sondern hier waltet das Geheimnis des Richters11 ; hier ist der Sieg des Rechtes, nicht die Strafe der Verurteilung; hier hat nicht der Mensch veruntreut, sondern Gott einen Schatz hinterlegt, hier ist nicht die Ursache des Todes, sondern des Lebens. Und darum fürchte dich nicht, denn sie, die das Leben gebiert, verdient nicht den Tod12 . „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Weib, zu dir zu nehmen.“ Dass die Braut hier Weib S. 26genannt wird, geschieht nach dem Gesetze Gottes. Wie sie also Mutter ist, trotzdem ihre Jungfräulichkeit unversehrt bleibt, so wird sie Gattin genannt, trotzdem ihre Keuschheit unberührt ist. „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria dein Weib zu dir zu nehmen; denn was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste.“
Nun mögen kommen und hören, die da fragen, wer der sei, den Maria geboren hat! „Was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste.“ Kommen mögen sie und hören, die mit griechischer Verwirrung die lateinische Klarheit zu umnebeln sich bemühten und sie schmähten als „Menschen und Christusgebärerin“, um ihr den Namen „Gottesgebärerin“ zu rauben.13 „Was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste.“ Was vom Hl. Geiste geboren ist, ist Geist14 , denn „Gott ist Geist“15 . Was forschest du also darnach, wer der ist, der vom Hl. Geiste erzeugt wurde, da er doch die als Gott selbst die Antwort gibt, dass er Gott sei? da doch Johannes dich anklagt, wenn er sagt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Und das Wort, Gott, ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen“16 . Johannes sah seine Herrlichkeit, sah auch seine Verunglimpfung durch den Ungläubigen: „Was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste“. „Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen.“ Wessen Herrlichkeit? Dessen, der erzeugt wurde vom Hl. Geiste, dessen, der als „Wort ist Fleisch geworden und unter uns gewohnt hat“. „Was in ihr erzeugt ward, ist vom Hl. Geiste.“ Die Jungfrau empfing, aber vom Hl. Geiste; die Jungfrau gebar, aber den, von dem Isaias vorausgesagt S. 27hat: „Siehe die Jungfrau wird in ihrem Schoße empfangen und einen Sohn gebären, und seinen Namen wird man nennen Emanuel, d. h. Gott mit uns“17 . Gott mit uns, mit jenen [Gemeint sind die Irrlehrer] der Mensch: „Verflucht sei, der seine Hoffnung setzt auf einen Menschen“18 . Hören sollen das, die da fragen, wer der sei, der von Maria geboren wurde. „Sie19 wird Mutter eines Sohnes werden“, sagt der Engel, „und du sollst ihm den Namen Jesus geben.“ Warum Jesus? Der Apostel sagt: „Auf dass im Namen Jesu sich die Knie aller beugen, die im Himmel, auf Erden und unter der Erde sind“20 . Und du, du listiger Untersucher, du fragst jetzt noch, wer Jesus sei: „Jede Zunge bekennt ja schon, dass der Herr Jesus ist in der Herrlichkeit Gottes des Vaters“21 , und du fragst noch, wer dieser Jesus sei?
„Sie wird Mutter eines Sohnes werden, und du sollst ihm den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk erlösen.“ Nicht [das Volk] eines anderen wird er erlösen. Wovon? „Von seinen Sünden.“ Wenn du den Christen nicht glaubst, dass er Gott sei, der die Sünden vergibt, so glaube es, du hartnäckigster Ungläubiger, den Juden, die sagen: „Du bist ein Mensch, und du machst dich selbst zu Gott“22 , und: „Wer kann Sünden vergeben als nur Gott allein?“23 . Jene erkannten ihn als Gott nicht an, weil sie nicht glaubten, dass er Sünden nachlasse; und du glaubst, dass er Sünden vergeben könne, zögerst aber, ihn als Gott zu bekennen? „Das Wort ist Fleisch geworden“, damit das Fleisch des Menschen erhoben werde zur Herrlichkeit Gottes, nicht damit Gott hinabgezogen werde zur Erniedrigung im Fleische, wie der Apostel sagt: „Wer sich mit dem S. 28Herrn verbindet, ist ein Geist mit ihm“24 , und wie soll Gott nicht einer [mit ihm] sein, wenn Gott sich mit dem Menschen verbindet? Menschliche Gesetze erklären nach Ablauf von dreißig Jahren alle Streitsachen für ungültig, und Christus steht schon fünfhundert Jahre25 lang wegen seiner Geburt auf der Anklagebank, ist wegen seiner Abstammung in einen Prozeß verwickelt, muß [heute noch] Untersuchungen über sich ergehen lassen wegen seines Standes! Irrlehrer! Laß ab, Gericht zu halten über deinen Richter, und bete im Himmel den als Gott an, den der Magier als Gott anbetete auf Erden26 .
Mt 1,18f ↩
Ich lese mit einigen Hss. relinquit statt requitit ↩
Mt 7,2 ↩
Mt 1,20f. ↩
vgl. Mt 1,6 ↩
Ps 131,11 ↩
Ps 109,1 ↩
Hl 4,12 ↩
Non humanus lapsus est, sed est divinus illapsus ↩
Incrementum coeli, non corporis detri mentum ↩
Non est proditio personae, judicis est secretum ↩
Dt. 22,20ff. ↩
So taten die Anhänger von Theodor von Mopsuestia und Nestorius. ↩
vgl. Joh 3,6 ↩
Joh 4,24 ↩
Joh 1,1. 14 ↩
Jes 7,14 ↩
Jer 17,5 ↩
ich lese wie im Eingang der Rede pariet statt paries ↩
Phil 2,10 ↩
Phil 2,11 ↩
Joh 10,33 ↩
Mk 2,7 ↩
1 Kor 6,17 ↩
in Zeit angaben ist Chrysologus, wie viele andere Väter, ungenau. Ein Schluß auf Lebenszeit des Redners läßt sich darum aus obiger Angabe auch nicht ziehen. ↩
Mt 2,11 ↩
