Vierzehnter Vortrag: Über dieselbe Stelle.
Glaubst du wohl, dass das Herz eines Sterblichen fassen könnte die Größe der Liebe des Herrn gegen uns? Glaubst du wohl, dass der Geist, der durch die Last des irdischen Leibes beschwert ist, erkenne und fühle die Liebe, die Gott gegen uns hegt? Denn wie sehr auch des Himmels Schmuck scheinen, leuchten und glänzen mag; was auch immer auf Erden duften mag in den Blumen, reifen mag in den Früchten, sich freuen mag in den [übrigen] Lebewesen aus Liebe zu uns ist es geschaffen und unserer Herrschaft unterworfen. Aber wie groß dies auch alles sei, es ist doch nur klein, um uns die Größe der Liebe Gottes zu beweisen. Für uns kämpfen die Fürstentümer des Himmels, für uns die Mächte der Luft, für uns die Kräfte der überirdischen Welt, für uns kämpfen die Scharen der Engel in unermüdlichem Wachedienst. Aber auch dies ist nur geringfügig, um die Größe der Liebe Gottes zu uns zu beweisen, ja so klein und insoweit ganz ungeeignet, weil eben das Geschöpf geringer ist als sein Schöpfer. Gott ist für das Auge nicht sichtbar, für unser Gesicht nicht schaubar, für keinen Sinn wahrnehmbar, für unsern Geist unerreichbar1 , ja nicht einmal ganz zu erkennen, auch wenn wir von ihm hören, wenn er auch so oft und so sehr und so verschiedentlich und so mannigfaltig menschlichen Blicken sich gezeigt hat. Wie sehr hat er S. 87sich doch menschlicher Gemeinschaft und Vertraulichkeit überlassen und angepaßt, als er den Noe zum Genossen seines Ratschlusses machte, ihn warnte, dass eine Sündflut bevorstehe, die Welt zu entsühnen, [ihn belehrte,] dass, da er der Wächter der Arche sei, in seinem geringen Samen die ganze Welt beschlossen sei2 ; als er zu Abraham kam als Gast, in voller Verdemütigung der Einladung folgte, die angebotenen Gaben nicht zurückwies, gleichsam hungrig und müde annahm, was ihm vorgesetzt wurde, und in göttlicher Vergeltung gleichsam als Dürftiger annimmt und empfängt, was Menschen ihm reichen3 . Daher lebten auch die erstorbenen Glieder des Greises bald wieder auf, seiner unfruchtbaren, hochbetagten Gattin erstorbener Schoß wurde wieder erweckt, und die Natur, die bei lebendigem Leibe begraben war, erhebt sich, um ihren Erzeuger hervorzubringen und erzeugt im Laufe der Zeit viele Nachkommen durch den einen, an den er als den Schöpfer glaubte4 . Vor dem Moses machte sich der feurige Gott klein5 in dem Dormbusch, dann teilt er dem Knechte mit, was geschehen soll, betätigt sich [als Gott] durch die mannigfaltigen Wundertaten in Ägypten und zeigt sich offen auf den Wink seines Knechtes6 . Er verhängt Strafen und nimmt sie weg, und wie sehr er Herr über das Meer war und wieviel Macht er dem Menschen gegeben hat, beweist der gehorsame Dienst des rächenden Meeres. Das Wasser ist trocken geworden und die Woge weicht [zurück vor] den Frommen7 ; das gehärtete Wasser ist eine Mauer und bietet denen, die er befreien wollte, eine Schutzwehr an, kehrt dann aber mit der ganzen Kraft seiner Natur zurück, um über den grausigen Feind zu triumphieren8
S. 88Wunderbar verbunden war Gott mit den Israeliten in ihrem Lager: nun schlägt er die zahllosen Völker mit seinem Blitz, nun trifft er sie mit seinem Hagel9 , nun schlägt er sie zu Boden durch das bloße Getöse seiner Posaune10 , damit ohne Kampf und ohne Wunde Gott führe die siegreichen Kampfesreihen, denen er vorangeht. Er erfüllt ihr Verlangen, er gewährte ihre einzelnen Wünsche, schnell erhörte er ihre Fragen, er offenbarte ihnen, was ihnen verborgen, sagte ihnen voraus die Zukunft, machte ihnen seine Gebote bekannt, gab ihnen einen König, schenkte ihnen Reichtum, ließ milden Regen fallen, verlieh der Erde Fruchtbarkeit, schmückte ihre Ehen mit Kindersegen und Ruhm. Aber er hielt auch das noch für wenig: nicht nur in seinen Wohltaten zeigte er uns sein Wohlwollen, nicht minder auch dadurch, dass er uns Leiden schickte, sie geduldig zu ertragen11 . Schließlich kam er arm in seine Welt, als ein Mensch liegt er in der Wiege, wimmernd fleht, bittet, ja fordert er die Liebe von dir, die er dir erwiesen hat. Er, der alles schuf, nahm dich als Erzeuger an; er, dem jede Höhe unterworfen ist, ist dir untertan. Er fürchtet sich, den selbst fürchten die furchtbaren Mächte, er flieht, zu dem alles flüchtet; der Herr des Himmels ist Gast in dem Hause der Sünder12 ; er nährt sich von unserem Brote, der, der alles ernährt. Und mit einem Wort: Der allmächtige Schöpfer der Welt13 wird gefesselt, der die Erde gründete, wird in Banden gelegt; gerichtet wird, der den Menschen freigebig Verzeihung gewährte; ausgefragt wird, der die Herzen erforscht; bestraft wird, der das Leben gibt und wieder schenkt; begraben wird die Auferstehung aller, damit der träge Sinn des Menschen und die genugsam untätige Einsicht des Menschen wenigstens durch den Tod die Liebe Gottes gegen ihn bekunde, er, der bei den vorher erwähnten zahllosen S. 89Wohltaten Gottes nicht erkannt hatte und nicht die Liebe Gottes gegen ihn empfunden hatte. Wer also das Sein gegeben, gab auch das Leben, lehrte auch das Beten, weil er alles will verleihen, er, der wollte, dass wir ihn mit seinem Gebete anflehen:
„Vater unser, der du bist im Himmel“14 Siehe, Mensch, auf dein Wort nimmt dich heute Christus an Kindesstatt an, damit er dich mache zum Miterben Gottes des Vaters, indem er spricht: „Vater unser“. Was ein Beweis seiner Herablassung ist, will er als ein Zeichen seiner Macht hinstellen nach dem Worte: „Denen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden“15 ; dennoch aber befiehlt er uns zu sprechen, damit es geschehe durch die Herablassung des gebenden [Gottes], nicht durch die Vermessenheit des sich überhebenden [Menschen]. „Der du bist im Himmel.“ Nicht als sei er nicht auf der Erde; sondern er will, dass du, der du ihn schon den himmlischen Vater nennst, streben und verlangen möchtest nach der himmlischen Natur, dass unser Leben entspreche unserer Abkunft, dass nicht erdenhafte Sitten verderben, was16 die himmlische Natur gegeben und erhoben hat. „Geheiligt werde dein Name.“17 . Nicht als ob durch deine Bitte geheiligt werden könne der Name, der dich heiligt, sondern weil du nach dem Namen Christi genannt wirst Christ, darum sollst du bitten, dass dieser Name durch deine Werke geheiligt und in dir geehrt werde. Denn wie der Ruhm der Tugenden der Herrlichkeit des so großen18 Namens entspricht, so fließt auch überreich die Schande dessen, der schlechte Werke voll bringt, über zur Schande desselben Namens, wie der Apostel sagt: „Der Name Gottes wird durch uns gelästert unter den Heiden“19 . Und in der Tat, meine S. 90Kinder! Dann wird der Heide den christlichen Namen schmähen, wenn er sieht, dass der Christ anders lebt, als er bekennt und spricht. „Zukomme uns dein Reich.“20 . Nicht dass das Reich zu Gott komme, der es ja immer besitzt; sondern du bittest, dass zu dir das Reich komme, der du es ja nicht besitzest; dass du das empfängst, was in seiner Liebe dir der Herr verspricht, wenn er sagt: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, besitzet das Reich, das euch bereitet ist vom Anbeginn der Welt!“21 . „Kommet ihr Gesegnete!“ Nicht hat er gesagt: „Laßt uns kommen!“ „Besitzet“; nicht heißt es: „Laßt uns besitzen!“
Niemand wundere sich, dass der [schon] den Vater nennt, der noch nicht geboren ist22 ; denn wenn Johannes aufhüpfte23 und Jakob rang im Mutterleibe mit seinem Bruder24 , so möge der Einsichtige verstehen, was Gottes Natur vermag, wenn so mächtig ist menschliche Empfängnis durch Gottes Gnade.25 .
vgl. 1 Tim 6,16 ↩
Gen 6. 7 ff. ↩
Gen 18,3 ff. ↩
Gen 18,10 u. 21,2 ↩
Glomeratur ↩
Ex 3,2 ff. d. u. durch die Wunder, die Moses auf sein Geheiß vor Pharao wirkte ↩
piis; vielleicht ist zu lesen pedibus ↩
Ex 14,21 ff. ↩
Jos 10,11,das berühmte Sonnenwunder Josues von Gabaon ↩
Jos 6,20, bei der Eroberung Jerichos ↩
frei übersetzt ↩
vgl. Lk 15,2 ↩
pantokrator tenetur saeculorum ↩
Mt 6,9 ↩
Joh 1,12 ↩
ich lese mit Januel quod statt quos bei Migne ↩
Mt 6,9 ↩
Januel liest wohl richtig tanti statt tantum; so auch die Übersetzung. ↩
Röm 2,24 ↩
Mt 6,10 ↩
Mt 25,34 ↩
d. i. durch die Taufe noch nicht geistig wiedergeboren ↩
Lk 1,41 u. 44 ↩
Gen 25,22 ↩
Die Rede bricht unvermittelt ab, ist verstümmelt überliefert ↩
