Fünfter Vortrag: Über die Stelle: "Es erschien ein Engel des Herrn dem Joseph im Traume..."bis: "denn Herodes wird das Kind suchen." Mt 2,13
S. 40Wenn die Empfängnis einer Jungfrau, die Geburt aus einer Jungfrau unsere Predigt nicht erklären, der Sinn nicht fassen, der menschliche Verstand nicht begreifen kann, wer wagt dann zu sagen: Gott sei einem Menschen gleich geflohen? "Es erschien", heißt es, "ein Engel des Herrn dem Joseph im Traume und sprach: "Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!"1 . Wenn wir sagten, dass die Geburt Christi ein Werk der Liebe sei, was werden wir sagen, wenn wir lesen, dass er die Flucht ergriffen habe? Ungefähr so, wie wir sagten, dass er geboren wurde, um die Natur wiederherzustellen, können wir jetzt sagen, dass er geflohen sei, um die Flüchtlinge wieder zurückzurufen. Und in der Tat! Wenn er, um das irrende Schäflein zurückzuführen, selbst über die Gebirge dahinirrt2 , wie soll er nicht selbst die Flucht ergreifen, um die fliehenden Völker wieder zurückzuführen? "Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!". Aber warum wird dieser himmlische Ratschluß so behandelt, dass der Sinn des Menschen verwirrt, der Geist betäubt wird, dass der Verstand beschwert, das Ohr stumpf wird, dass die Glaubenskraft wankt, die Hoffnung erzittert, ja selbst die Geneigtheit zu glauben untergraben wird?.
"Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!" S. 41Ein Mensch verfolgt, und Gott flieht; die Erde rast, und der Himmel zittert; der Staub wirbelt auf, vor Furcht beben die Engel. Ja selbst der Vater ist in Furcht, wo der Sohn flieht! "Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!" David floh, als Saul ihn verfolgte, nach Judäa, zog sich in ein benachbartes Land zurück3 ; dem Elias genügte das Haus einer einzigen Witwe zum Versteck4 . Und da Christus die Flucht ergreift, ist keine Stätte da, keine Provinz, ihn nimmt kein schützendes Vaterland auf. Als er auswandern mußte, genügten nicht die benachbarten Völker, nicht die angrenzenden Länder, sondern Ägypten. Das an Gewohnheiten, Sprache und Sitten barbarische Ägypten bereitet ihm in der Verbannung einen traurigen Aufenthaltsort. "Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!" Wenn die Zuflucht der Welt entflieht, der Helfer aller sich verbirgt, wenn die alles stärkende Kraft erzittert, wenn der Schirmherr des Weltalls sich nicht zu schützen vermag, warum wird dann eines Menschen Flucht getadelt, warum die Furcht angeklagt, warum die Angst beschuldigt? Warum wird dem Petrus zum Verbrechen angerechnet, dass er leugnete?5 Dem Johannes, dass er zaghaft floh?6 . Den Jüngern allesamt, dass sie den Herrn verlassen haben vor Furcht?7 . Und wenn auch, Brüder, dies geschehen mußte warum wird es denn noch erzählt? warum in den Büchern berichtet? warum der Nachwelt überliefert? warum wird es zum Gegenstand täglicher Lesung gemacht? warum vor den Augen der Heiden offenbart? S. 42Sollte dadurch etwa jede Zunge. jeder Ort, jedes Alter, jede Zeit, sollte etwa die ganze Welt Kunde erhalten von dieser göttlichen Furcht? Denn gleich wie die Lektüre von Heldentaten das Gemüt anfeuert zur Begeisterung, so drückt die Schilderung schwacher Handlungen das Gemüt darnieder. Was will also der Evangelist, dass er dies aufzeichnete zum ewigen Gedächtnisse?
Es ist das Kennzeichen eines seinem Könige treuergebenen Soldaten, dessen Flucht zu verschweigen, aber seine Standhaftigkeit zu rühmen; seine Heildentaten zu verkünden, seine Befürchtungen zu verheimlichen; seine Tapferkeit bekanntzumachen, seine Schwächen zuzudecken, seine Niederlagen zu vertuschen, aber seine Siege zu preisen. Nur so dürfte er imstande sein, den Mut der Feinde zu brechen, und den Mut der Freunde anzufachen. Wenn also der Evangelist solches erzählt, scheint er eher das Gekläffe der Irrlehrer erhoben und den Gläubigen ein Verteidigungsmittel genommen zu haben. "Nimm", heißt es, "das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!" Zu fliehen, nicht abzureisen wird ihm befohlen. Zwang ist ihm auferlegt, nicht freier Willensentschluß; der Engel kündet ihnen eine geheime Verbannung an, nicht freien Verkehr, damit die Reise, an und für sich schon beschwerlich, auch noch beschwerlicher würde durch die Furcht! Es ist nunmehr Zeit, den Grund für eine solche Erzählung zu untersuchen. "Nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!" Wenn der Soldat im Kriege flieht, so tut er es aus List, nicht aus Furcht; wenn Gott vor dem Menschen flieht, so ist das ein Geheimnis, nicht Furcht, wenn der Mächtige zurückweicht vor dem Schwachen, so fürchtet er nicht den, der ihn verfolgt, sondern sucht ihn auf einen freien Platz zu locken. Denn wer einen öffentlichen Sieg über den Feind davonzutragen wünscht, will ihn auch in der Öffentlichkeit besiegen. Keiner wird es ertragen, einen heimlichen Zweikampf einzugehen, der seinen Triumph der Nachwelt verkündigen will. Ein Sieg im geheimen, eine Heldentat im S. 43verborgenen dient der Nachwelt nicht zum Vorbild. Darum geschah es auch, dass Christus floh, um der Zeit, nicht aber dem Herodes auszuweichen. Er, der gekommen war, den Sieg über den Feind davonzutragen, floh nicht vor dem Tode. Er, der gekommen war, die Winkelzüge der Bosheit des Teufels aufzudecken, erschrak nicht über die Nachstellungen der Menschen.
Auch fürchtete er sich damals nicht, als er als Kind seiner Menschheit nach die Furcht noch nicht kannte, als Gott aber über alle Furcht erhaben war. Brüder! Wäre Christus mit der ganzen Schar der unmündigen Kinder damals getötet worden, so wäre der Tod für ihn ein Verhängnis, nicht eine freie Willenstat gewesen; es wäre nicht Kraft, sondern Schwäche gewesen; Zwang, nicht Macht; es wäre zwar die Krone für seine Unschuld, nicht aber der Ruhm seiner Allmacht gewesen. Und vollends: was wäre geworden aus dem göttlichen Ausspruch: "Du sollst das Lamm nicht kochen in der Milch seiner Mutter"?8 . "Denn Herodes", heißt es weiter, "will das Kind suchen."9 Herodes suchte, vielmehr der Teufel suchte das Kind durch Herodes, sobald er sah, dass die Weisen, die er als Meister in ihren Zauberkünsten ansah10 , ihm entgangen seien. Wenn Christus noch in den Windeln eines Kindes, noch als Säugling an der Brust seiner Mutter, wenn er zu einer Zeit, wo er weder zu reden fähig noch einer Handlung mächtig, ja nicht einmal Fuß zu bewegen imstande war, die Fahnenträger des Teufels, die Weisen, in seine getreuesten Heerführer umzuwandeln vermochte, dann sah der Teufel wohl voraus, was Christus in reiferem Alter zu wirken imstande sein würde. Und darum regte er die Juden auf, stachelte den Herodes an, um dadurch dem schon als Kind für ihn so gefährlichen Christus zuvorzukommen, ihm im voraus die S. 44späteren Auszeichnungen seiner Wundertaten abzuschneiden, ihm als ein schlauer Betrüger die Fahne des Kreuzes, das für ihn das Zeichen des Todes, für uns das Zeichen des herrlichsten Sieges war, zu entreißen. Es fühlte der Teufel, er merkte, dass Christus durch seine Lehren und Wundertaten bald das Leben wiederherstellen und den ganzen Erdkreis für sich gewinnen würde, nachdem er schon in der Wiege die Häupter der weltlichen Gewalt11 an sich gezogen hatte, nach den Worten der Weissagung: "Ehe der Knabe weiß, seinen Vater und seine Mutter zu nennen, wird er die Macht von Damaskus und die Beute von Samaria an sich reißen"12 , was die Juden selbst beweisen, indem sie sagten: "Ihr seht, dass wir nichts ausrichten; siehe, alle Welt läuft ihm nach!"13 .
Christus hatte sowohl durch das Gesetz als durch die Propheten verheißen, dass er ankommen werde im Fleische, dass er aufsteigen werde durch die Stufen des Alters, dass er verkündigen werde die Herrlichkeit des himmlischen Reiches, dass er predigen werde die Lehre des Glaubens, durch die bloße Kraft seines Wortes die bösen Geister austreiben, den Blinden das Gesicht, den Lahmen den Gebrauch der Füße, den Stummen die Sprache, den Tauben das Gehör, den Sündern Nachlassung ihrer Sünden, den Toten das Leben wiedergeben werde14 Darum also, weil er dies alles erst im Mannesalter in Erfüllung bringen wollte, schob er in der Kindheit den Tod hinaus, nicht aber floh er vor ihm! Endlich weist der Evangelist darauf hin, dass die Flucht nicht aus Furcht vor der Gefahr, sondern wegen des Geheimnisses einer Weissagung geschehen sei; denn nachdem er gesagt hat: "Nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten", fügte er alsbald hinzu:"damit erfüllt werde, was Gott durch den Propheten gesprochenm hat: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn berufen"15 . Christus also floh, damit feststände die S. 45Wahrheit des Gesetzes, die Glaubwürdigkeit der Verheißung, das Zeugnis des Psalmisten, wie der Herr selbst sagt: "Es war nötig, dass dies alles in Erfüllung ging, was im Gesetz des Moses, bei den Propheten und in den Psalmen von mir geschrieben steht"16 . Christus floh für uns, nicht für sich; Christus floh, um die Geheimnisse für geeignete Zeit aufzubewahren; Christus floh, um den späteren Wundertaten Kraft zu verleihen, indem er einerseits den Abtrünnigen den Stoff zur Ausrede nehmen, andererseits denen, die an ihn glauben wollen, die Glaubenszuversicht mehren wollte. Denn in der Zeit der Verfolgung ist es besser zu fliehen als zu verleugnen. Denn siehe: Petrus, der nicht fliehen wollte, verleugnete den Herrn17 ; Johannes entfloh, um ihn nicht zu verleugnen18 .
Mt 2,13 ↩
vgl. Lk 15,4 ↩
1 Kön 21 u. 22 ↩
3 Kön 17,10ff. ↩
Mt 26,69ff. ↩
Mk 14,52 ↩
Mk 14. 50 ↩
Ex 34. 26 ↩
Mt 2,13 ↩
Chrysologus hielt mit manchen Vätern die Weisen für Zauberer ↩
gemeint wohl die Weisen ↩
Is 8,4 ↩
Joh 12,19 ↩
vgl. Mt 11,5 und Is 61,1f. ↩
Osee 11,1 ↩
Lk 24,44 ↩
Mk 14,68ff ↩
Mk 14,52 ↩
