Neunzehnter Vortrag: Über die Stelle: „Als er in das Schifflein stieg, folgten ihm seine Jünger...“ bis: „dass ihm Winde und Meer gehorchen.“ Mt 8,23-27
Die kirchlichen Lesungen sind nach dem geheimnisvollen Plane Gottes so eingerichtet, dass sie sowohl den Kundigen ein höheres Wissen als auch den Unerfahrenen die Gnade heilsamer Erkenntnis1 vermitteln. S. 111Als Christus, heißt es, in das Schifflein stieg, entstand, so wird berichtet, ein Unwetter, das einen großen Sturm erregte. „Da er in das Schifflein stieg“, heißt es, „ folgen ihm seine Jünger. Und sieh ein großer Sturm erhob sich auf dem Meer, so dass das Schifflein von den Wel len bedeckt war; er aber schlief.“2 Wie kommt es, dass das Meer, das den Füßen Christi seinen wogenden Rücken unterbreitete3 , seine Wogen glättete, seine Bewegungen mäßigte, seine Wellen bändigte und über den flüssigen Weg4 ihm diente mit Felsenfestigkeit wie kommt es, dass es jetzt wütet, tobt und in Lebensgefahr bringt5 seinen eigenen Schöpfer? Warum zeigte sich Christus, der die Zukunft vorausweiß, so unkundig der Gegenwart, dass er den nahenden Sturm, die Stunde des Unwetters. die Zeit der Gefahr nicht mied, sondern sogar, wo alle wachen, er allein vom Schlafe sich fesseln ließ, und das gerade, als ihm und den Seinen so Furchtbares drohte? Brüder! Des Steuermanns Kunst wird nicht erprobt bei heiterem Himmel, sondern im Sturm des Unwetters. Ist der Himmel klar, kann auch der letzte Schiffsjunge das Schiff steuern; wenn aber die Stürme gewaltig toben, ist die Kunst des ersten Meisters erfordert. Als daher auch die Jünger sahen, dass die Kunst der Schiffsleute vergeblich sei, dass das Meer gegen sie wüte, dass die Fluten lechzten nach ihrem Untergang, dass die Wirbelwinde sich gegen sie erhoben hatten, da flüchteten sie sich vor Angst zum Lenker des Weltalls selbst, zum Steuermann der Welt, zum Meister der Elemente, und flehten ihn an, er möge die Wogen stillen, die Gefahr beseitigen, Rettung schaffen den Verzweifelten. Jetzt erst, wo sein bloßer Befehl das Meer beherrschte, die Winde vertrieb, die Wirbel zerriß, wiederherstellte die Ruhe, da erkennen, glauben und bekennen6 ihn alle, die mit ihm fuhren, als den Herrn des Alls.
S. 112Doch nun laßt uns den inneren Sinn [der Lesung] vortragen! Sobald Christus das Schiff seiner Kirche bestieg, um nun durch das Meer der Welt hindurchzufahren, brachen die Stürme der Heidenvölker, die Wirbelwinde der Juden, die Orkane der Verfolger, die Wetterwolken des Pöbels, die Nebelschleier der Dämonen mit solcher Gewalt über sie herein, dass die ganze Welt nur ein Unwetter war. Es schäumten auf die Wogen der Könige, es zischten die Wellen der Mächte, es erdröhnte das Wutgeschrei der Sklaven, es kreisten die Strudel der Völker, es erhoben sich die Klippen des Unglaubens, es brüllten auf die Gestade der Christenheit, es trieben umher die Schiffstrümmer der Gefallenen, die ganze Welt war nur eine Gefahr und ein Schiffbruch. „Und seine Jünger traten zu ihm, weckten ihn und sprachen: 'Herr, hilf uns. Wir gehen zugrunde'. Und Jesus sprach zu ihnen: 'Warum seid ihr so furchtsam, ihr Kleingläubigen'?“7 Aufgeweckt also von den Jüngern, züchtigt Christus das Meer, d. i. die Welt, beruhigt den Erdkreis, besänftigt die Könige, beschwichtigt die Mächte, stille die Fluten, ordnet die Völker wieder, macht die Römer zu Christen. Ja auch die macht er zu treuen Anhängern des christlichen Glaubens, die ehedem, den christlichen Namen noch verfolgt hatten8 . Diesen Frieden bewahren nun die christlichen Fürsten, die Kirche genießt ihn, die Christenheit erfreut sich in ihm, die Heidenwelt ist voller Sturm. „Alsdann stand er auf“, heißt es, „gebot den Winden und dem Meere und es ward eine große Stille. Da staunten die Leute und sprachen: 'Wer ist dieser, dass ihm Winde und Meer gehorchen'“?9 Jünger des Herrn sind es, die an ihn herantreten, ihn wecken, in demütigem Flehen von ihm Rettung erbitten. Die Leute aber sind es, die sich wundern, dass auch die Elemente Christo so willig gehorchen. Ja, wahrlich homines, Menschen sind es, Menschen dieser Welt, die sich wundern, dass so die Welt sich zum Gehorsam gegen S. 113Christus bekehrt habe, die darüber staunen, dass der Tempel hochragende Kronen10 gleichsam wie die Kämme der Wogen gestürzt sind, dass sie sehen müssen, dass wie Schaum ihre Götzenbilder, wie ein Wirbelwind ihre Dämonen vertrieben sind; ja durch den weit über den Erdkreis verbreiteten Frieden der christlichen Lehre sind sie vollständig verwirrt worden. Und in der Tat, Brüder, als Christus im Tode schlief, hat sich der Sturm gewaltig in der Kirche erhoben; als aber Christus von den Toten auf erstand, wurde, wie die Schrift lehrt, der Kirche die große Ruhe wiedergegeben.
Möchten doch auch wir den in uns schlafenden Christus mit dem lauten Seufzer des Herzens, mit der Stimme unseres Bekentnisses, mit den Tränen eines Christen, mit lautem Weinen, mit den Angstrufen der Apostel wecken und rufen: „Herr, hilf uns! Wir gehen zugrunde!“ Und genau paßt ja auch die Lesung auf unsere Zeit, wie geschrieben steht: „Der Nordwind ist ein rauher Wind“11 ; seinem Namen nach wird er der „Rechte“ genannt; denn er hat uns jene wilden, jene grimmigen Völker herangeführt. Dieser rauhe, von rechts wehende Nordwind ergießt sich nach Süden, nach Ost und West in furchtbarem Sturm, wühlt die Meere auf, verpestet die Lüfte, stürzt um die Berge, verzehrt die Städte, versenkt ganze Provinzen und wandelt den Erdkreis um in ein einziges Wrack.12 Daher kommt es, dass das Schifflein Christi bald hoch gegen Himmel geschleudert wird, bald in die Abgründe der Furcht13 hinabgeworfen wird. Bald läßt es sich lenken durch Christi Kraft, bald sich hin und hertreiben von Angst und Furcht; bald wird es bedeckt mit den Fluten des Schmerzes, bald ringt es sich sicher hindurch auf den Flügeln des gläubigen Bekenntnisses. Wir aber, S. 114Brüder, wollen immer und immer wieder rufen: „Herr, hilf uns! Wir gehen zugrunde!“ Und in der Tat, Brüder, wenn wir wirklich uns als einen menschlichen Leib auffassen würden, wenn wir glauben wollten, dass die, die da untergehen, unser eigen Fleisch und Blut wären, so würden wir in der Zucht des Fastens, in dem Seufzer des Gebetes unter Tränenströmen ohne Unterlaß rufen: „Herr, hilf uns! Wir gehen zugrunde!“
Würden wir uns bemühen, uns selbst zu Hilfe zu kommen in unseren Brüdern, dann würden wir nicht auf Erden ein solches Blutmeer über unser eigenes Fleisch und Blut durch das wütende Schwert sich ergießen sehen; wir würden nicht den Tod so vieler Menschenleiber und sicher nicht den Tod so vieler Seelen zu beklagen haben.14 Und wir würden mit demütiger Stimme beten: „Herr, hilf uns! Wor gehen zugrunde!“ Und doch! Kein Mitleid, kein Mitgefühl, keine Furcht, keine Scham und kein Reueschmerz, nichts von alledem lebt in uns! Gottes, ja Gottes Gericht ist es, dass wir gepeinigt werden von Schmerz, geschlagen werden ohne Unterlaß, dass die Heidenwelt triumphiert, dass Hagelschauer über uns hereinstürzen, dass Rost [unsere Nahrung] vergiftet, dass die Gottlosigkeit herrscht, die Krankheiten überhand nehmen, der Tod wütet, dass die Erde erbebt. Und dennoch! Wir zittern nicht, wir fürchten uns nicht, wir lassen nicht ab vom Bösen, wir streben nicht nach dem Guten! Die Habsucht wütet weiter, der Luxus dehnt sich weiter aus, die Ruchlosigkeit ergötzt, fremdländisches Wesen reizt uns, unser Wohlstand geht verloren, Gottes Geißeln15 sind gekommen, und unsere Schuld hat sie gerufen. Doch, ist der Herr auch gerecht, er ist auch barmherzig. Brüder! Laßt uns zurückkehren zum Herrn, damit der Herr zu uns zurückkehre! Lassen wir ab vom S. 115Bösen, damit das Gute wieder ans Tageslicht komme! Laßt uns dienen dem guten Gott, damit wir nicht zu dienen brauchen den bösen Heiden und den Mächtigen der Bosheit, unter der Leitung und Hilfe Christi, unseres Herrn, dessen Ehre und Herrlichkeit währt ohne Ende von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
ich lese salutaris intelligentiae gratiam statt salutaria i. gr. ↩
Mt 8,23f. ↩
vgl. Joh 6,19 ↩
liquentem viam ↩
ad periculum sui saevit, furit, contendit auctoris ↩
sentiunt, credunt, fatentur auctorem ↩
Mt 8,25 f. ↩
Wortspiel mit executores u. persecutores ↩
Mt 8,26f. ↩
es ist templorum vertices zu lesen statt templorum vertice ↩
vgl. Ekkli 43,22 ↩
Die Predigt ist gehalten zur Zeit der Völkerwanderung, auf deren wilde Stürme der Redner hier anspielt. Welche besonderen Verhältnisse der Redner im Auge hat, läßt sich nicht sagen. Die Autoren gehen in der Festlegung der Rede auf eine bestimmte Zeit weit auseinander. ↩
d. i. die furchtbaren Abgründe ↩
Gemeint sind die Bemühungen der Irrlehrer, die Gläubigen zum Abfall zu bewegen oder die Verführungen der Heiden zur Sittenlosigkeit. ↩
möglich ist die Anspielung auf die Raubzüge Attilas, der sich 'Gottesgeißel' nannte ↩
