Sechzehnter Vortrag: Über dieselbe Stelle.
Geliebteste Brüder! Derselbe, der euch den Glauben verlieh, lehrte euch auch das Beten, und ihn wenigen Worten nur gab er die gesamte Gebetsform. Denn der Sohn müht sich nicht ab mit vielen Worten, wenn er den Vater um etwas bittet. Wie nämlich den Sohn die Not zwingt, zu bitten, so treibt die Liebe den Erzeuger zum Geben. Der Vater also, der aus dreien Stücken verleiht, gibt nicht so sehr an, dass wir ihn bitten sollen, als vielmehr, um was wir bitten sollen, damit auch der Sohn dadurch, dass er um Gerechtes bittet, bei ihm Gefallen sich erwerbe, wo er doch ebenso Mißfallen sich zuziehen könnte, wenn er um Törichtes bitten würde. Vernehmt den Vater und glaubet, dass ihr nunmehr seine Kinder seid, damit ihr auch erlangen könnt, was ihr ohne Zaudern erfleht habt. Was der Glaube vermag, was die Überzeugung kann, welchen Wert das Bekenntnis hat, wird heute an euch offenbar. Seht, wie das dreifache Bekenntnis der Dreifaltigkeit [d. i. im Glaubensbekenntnis] euch erhoben hat von S. 96der irdischen Knechtschaft zur himmlischen Kindschaft; seht, der Glaube, der Gott den Vater nannte, er hat euch heute den Vater als Gott erworben, hat euch zu Gotteskindern gemacht; seht, der Glaube, der laut verkündete den Hl. Geist als Gott, hat euch von der sterblichen Fleischesnatur umgewamdelt in das lebendige Wesen des Geistes. Wer könnte wohl erfunden werden als ein würdiger Lobredner solch großer Liebe? Gott Vater würdigt sich, die Menschen zu seinen Erben zu machen; Gott Sohn verschmäht es nicht, seine Knechte zu seinen Miterben zu haben; Gott [der Hl.] Geist nimmt das Fleisch als Teilhabe an der Gottheit an. Erdenbewohner werden Himmelsbesitzern und die schon dem Machtbereich der Unterwelt überliefert waren, werden aufgenommen in die himmlischen Gefilde, wie auch der Apostel beweist, wenn er sagt: "Oder wißt ihr nicht, dass wir die Engel richten werden?"1 . So nennt also Gott euren Vater und glaubet, dass ihr, die ihr noch nicht geboren seid, doch schon bestimmt seid zu Söhnen [Gottes], und strebet darnach, dass in euch lebe ein himmlisches Leben, göttliche Art, dass ihr an eurer Stirne stets traget ganz das Abbild Gottes! Denn euer himmlischer Vater belohnt mit göttlichen Gaben die Kinder, die ihrer Abkunft entsprechen; die entarteten Söhne aber verurteilt er wieder zur Strafe der Knechtschaft. "Vater uns, der du bist im Himmel."2 . Unterliegen müßte das Bewußtsein des Sklaven, zusammenbrechen müßte das Geschöpf aus Erde, wenn nicht des Vaters Machtgebot, wenn nicht der Geist des Sohnes selbst uns zu diesem Rufe auffordern würde, wie geschrieben ist: "Es sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, welcher ruft: Abba, Vater!"3 . Der Geist erlahmt, das Fleisch wird ohnmächtig vor dem Gott, wenn nicht Gott, der es befiehlt, selbst erfüllen würde, was er befiehlt. Wann würde wohl ein sterbliches Wesen es wagen, Gott Vater zu nennen, wenn S. 97nicht Kräfte des Himmels des Menschen Inneres belebten?
"Vater unser, der du bist im Himmel." Mensch! Was hast du mit der Erde gemein, der du dich bekennst als himmlischen Geschlechtes? Nun wohl, zeige also himmlisches Leben in irdischer Wohnung; denn was immer in dir getan hat irdisches Sinnen, du hast dadurch den Himmel befleckt, deiner himmlischen Abkunft Schmach angetan. "Geheiligt werde dein Name."4 . Wir bitten, dass Gott seinen Namen heilige, der durch seine Heiligkeit die ganze Schöpfung heilt und heiligt. Brüder, das ist der Name, vor dem die himmlischen Mächte erzittern, den sie hören zitternd in Knechtschaft; das ist der Name, der der verlorenen Welt wiedergibt das Heil. Aber wir bitten, dass der Name Gottes durch unsere Tat geheiligt werde in uns. Handeln wir gut, so wird der Name Gottes gepriesen; handeln wir schlecht, so wird er gelästert. Höre, was der Apostel sagt: "Der Name Gottes wird gelästert durch uns unter den Heiden"5 . Wir bitten also, wir bitten, dass, soweit der Name Gottes heilig ist, wir auch in unserer Gesinnung seine Heiligkeit erlangen mögen. "Zukomme uns dein Reich."6 . Als sei es nicht immer gewesen, und als sei es auch jetzt nicht, so beten wir nun, dass das Reich Christi komme! Wo bleibt denn das Wort: "Das Reich Gottes ist in euch"?7 . Es ist in uns durch den Glauben, aber wir bitten, dass es auch zu uns komme in Wirklichkeit. Brüder, so lange der Teufel durch die verschiedenen Arten der Bosheit, durch vielerlei Täuschungskünste die Ordnung der Welt zerstört, den Sinn und die Sitten der Menschen verwirrt, durch seine Götzenbilder gegen sie wütet, gegen sie tobt durch abergläubige Gebräuche, sie betrügt durch die Auguren, sie belügt durch die Opfer schau, sie täuscht durch Wahrsagerzeichen, sie verspottet durch die Gestirne, sie S. 98gefangen nimmt durch die Schauspiele, sie belagert durch die Laster, sie verwundet durch die Sünden, sie tötet durch Verbrechen, sie zu Boden wirft durch die Verzweiflung: so lange hält er uns und trennt er uns vom Reiche Christi. Wir bitten also, dass die Zeit kommen möge, wo der Urheber einer so großen Übels vernichtet werde, wo die ganze Welt, wo die ganze Schöpfung herrsche und triumphiere zur vollen Herrlichkeit Christi ganz allein, damit eintrete, was im folgenden steht: dass wie im Himmel, so auch auf Erden nur herrsche der eine Wille Gottes. Der Himmel sei unsere Heimat, Gott unser Leben, die Ewigkeit unsere Zeit, die Ruhe unser Vaterland, die Unschuld unser Vermögen, die Unsterblichkeit unsere Ehre, die Keuschheit unser Ruhm, Gott unser alles! Hinzufügt er dann:
"Unser tägliches Brot gib uns heute."8 . Nachdem wir um die Vaterschaft Gottes, die Heiligung des göttlichen Namens, um das Reich des Himmels gefleht haben, werden wir nun aufgefordert, das tägliche Brot zu erflehen! Christus macht sich nicht schuldig der Vergeßlichkeit, er hat mit seinen Geboten nichts Widersprechendes befohlen. Er selbst hat gesagt: "Sorget nicht ängstlich für euer Leben, was ihr essen oder was ihr trinken werdet"9 . Aber weil er selbst "das Brot ist, das vom Himmel herabgestiegen ist"10 , das durch die Mühlsteine des Gesetzes und der Gnade gemahlen ist in das Mehl, das zubereitet wurde durch das Leiden des Kreuzes, ganz durchsäuert ist durch das Geheimnis der großen Liebe, das aus dem Grabe sich erhoben hat als weiches Linderungsmittel, das, um im Glutofen seiner Gottheit gebacken zu werden, selbst den Ofen der Hölle ausheizte11 , das zur himmlischen Speise jeden Tag auf den Tisch der Kirche gelegt wird, das zur Vergebung der Sünden gebrochen wird, das zum ewigen Leben nährt und weidet, die davon essen: dies Brot soll S. 99uns, so bitten wir, täglich geboten werden, bis wir davon in Ewigkeit einmal genießen werden. "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern."12 . Mensch! Bei dir liegt die Macht der Vergebung, bei dir die Macht der Verzeihung. Du selbst bist als Urheber der Vergebung aufgestellt. Umsonst bittest du für dich Verzeihung, wenn du es verschmähst, sie dem Nächsten zu gewähren. Mensch! Du bist dir selbst gemacht worden zum Maße der Barmherzigkeit: so viel du Erbarmung forderst, so viel gib!
"Und führe uns nicht in Versuchung."13 . Die Versuchung, Brüder, ist ein Trugbild. Sie verbirgt Glück im Unglück, Unglück im Glück und führt so die unwissenden Menschen zu trügerischem Fall. Wir bitten also, dass wir nicht unter dem Drucke der Sünden fallen mögen in die Schlingen der Versuchungen. Wenn es aber heißt: "Gott führe den Menschen in Versuchung, so soll damit nur gesagt sein, dass er diejenigen, die ihren Sünden nacheilen, um Stiche läßt. "Sondern erlöse uns von dem Übel."14 . Damit bezeichnet er den bösen Urheber des Bösen, den Teufel. Wir bitten also, dass wir durch diese Gnade von allen Übeln mitsamt deren Urheber verschont bleiben. "Vater unser, der du bist im Himmel." Niemand wundere sich, dass er, wenn er sich auch Sohn nennt, doch bleibe im Stande der Knechtschaft. Als Sproß Gottes wirst du heute bezeichnet, noch nicht erhoben; du hast die Hoffnung erhalten, aber glaube noch nicht, die Verwirklichung selbst schon erhalten zu haben. Vernimm was der Apostel sagt: "Durch die Hoffnung sind wir gerettet worden. Die Hoffnung aber, die erschaut wird, ist keine Hoffnung; denn was jemand sieht, wie hofft er es noch? Wenn wir aber hoffen, was wir nicht sehen, warten wir durch Geduld"15 Heute ist der Tag der Aufnahme an Kindesstatt; heute ist die Zeit [der Erlösung] des Versprechens: S. 100Höre, glaube, hoffe! Glaube deinem Gläubiger, der dir, dem Schuldner geglaubt hat; harre ein wenig auf seine Ankunft, der dich so lange erwartete, dass du kommen würdest! Gib ihm eine Frist für sein Versprechen, der dir schon nachgelassen hat, was du ihm schuldest! Oder warum solltest du dich abmühen in der Hoffnung auf Gott, wenn doch das ganze Menschengeschlecht gegründet ist auf Hoffnung, lebt nur aus dem Glauben? Der Landmann würde niemals säen in seinem Schweiße, wenn er nicht die Frucht seiner Mühe erhoffte von der Zeit! Der Wanderer würde nicht die Mühe einer beschwerlichen Reise auf sich nehmen, wenn er nicht glaubte, zu seinem Ziele zu gelangen! Der Schiffsmann würde nicht auf das unsichere Meer16 hinausfahren, wenn er nicht glaubte, dass der zukünftige Gewinn ausgleichen würde die Gefahren des Weges! Der Soldat würde nicht die ganz Zeit seiner Jugend in Gefahr zubringen, wenn er nicht hoffte auf die äußerst reichen Ehren in seinem Alter! Der Sohn würde nicht die Zeit der Herrschaft des Vaters ertragen, wenn er sich nicht wüßte als Erbe des väterlichen Vermögens!
Und du: wenn du dich schon als Sohn Gottes glaubst, dann, wie der Prophet sagt: "Harre des Herrn, handle männlich und erstarke in deinem Herzen"17 , ja, dann harre aus, damit du erlangen mögest das Erbe Gottes wegen des Glaubens deiner Erwartung und wegen der Tugend deiner Geduld! Vernimm, was der Apostel sagt: "Wir sind Söhne Gottes und noch nicht ist offenbar, was wir sein werden. Wir wissen aber, dass wenn es offenbar ist, wir ihm ähnlich sein werden"18 . Und an einer anderen Stelle: "Euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott, wenn aber Christus, euer Leben, erschienen ist, dann sollt auch ihr erscheinen mit ihm in Herrlichkeit"19 . Brüder, selig sind die Söhne Gottes; denn sie werden das Erbe der ganzen Welt besitzen und nicht werden sie schauen die Zeiten der Trauer wegen des Hinscheidens des Vaters.
