Zwanzigster Vortrag: Über die Stelle: „Er stieg in ein Schiff, fuhr hinüber und kam in seine Stadt...“ bis: „und er stand auf und ging nach Hause.“ Mt 9,1-7
Dass Christus in seinen menschlichen Handlungen göttliche, geheimnisvolle Taten vollbrachte und an sichtbaren Dingen unsichtbare Wirkungen vollzog, beweist unsere heutige Lesung. „Er stieg“, heißt es, „in ein Schiff, fuhr hinüber und kam in seine Stadt.“ Ist er es denn nicht, der die Fluten des Meeres hemmte und seine Tiefen bloßlegte, so dass das israelische Volk durch die starrenden Wogen trockenen Fußes wie durch die Schluchten der Berge hindurchgehen konnte?1 Ist er es denn nicht, der die Wogen des Meeres unter den Füßen des Petrus bändigte, dass der schlüpfrige Pfad den menschlichen Schritten einen festen Boden darbot?2 . Und wie kommt es, dass er für sich den Dienst des Meeres nicht in Anspruch nimmt, dass er nun die Überfahrt über den kleinen See um Schifferlohn bewerkstelligen wollte? „Er stieg“, heißt es, „in ein Schiff und fuhr hinüber.“3 . Was ist denn Wunderbares daran, Brüder? Christus kam doch, um unsere Schwachheit auf sich zu S. 116nehmen, uns seine Kräfte mitzuteilen, Menschliches zu suchen und Göttliches zu verleihen, Schmach auf sich zu nehmen und Ehren zu geben, schimpfliche Leiden zu ertragen und Heilung zu bringen. Denn ein Arzt, dem die Krankheit unerträglich ist, versteht nicht die Krankheit zu heilen, und wenn er nicht mit den Schwachen schwach gewesen ist, wird er dem Schwachen die Gesundheit nicht bringen können.4 . So wäre also auch in Christus, wenn er in seiner Herrlichkeit geblieben wäre, wenn er nichts Gemeinsames mit den Menschen gehabt hätte, wenn er nicht des Fleisches Gesetz erfüllt hätte, die Annahme des Fleisches vergeblich gewesen. Er trug also diese Nöten, um sich als wahren Menschen in den menschlichen Nöten zu bewähren.5 .
„Er stieg“, heißt es, „in ein Schiff.“ Christus besteigt das Schiff seiner Kirche, um für alle Zeit die Wogen der Welt zu besänftigen, um, die an ihn glauben, in ruhiger Fahrt zum himmlischen Vaterlande zu führen, sie zu Mitbürgern seiner Stadt zu machen, die er zu Genossen seiner Menschheit gemacht hat. Christus bedarf also nicht des Schiffes, sondern das Schiff bedarf Christi, weil ohne den himmlischen Steuermann das Schiff der Kirche durch das Meer der Welt in so furchtbaren und heftigen Stürmen nicht hindurch kommen könnte in den Hafen des Himmels. Dies haben wir, Brüder, erwähnt wegen des geistigen Verständnisses, doch nun wollen wir die geschichtliche Erzählung6 weiter verfolgen. „Er stieg“, heißt es, „in ein Schiff, fuhr hinüber und kam in seine Stadt.“ Der Schöpfer der Welt, der Herr des Erdkreises, fängt nun, nachdem er sich unseretwegen in unser Fleisch eingeschlossen hat, an, ein menschliches Vaterland zu haben, Bürger zu sein der jüdischen Gemeinde; Eltern zu haben, er, der der Vater aller ward, [und warum?] damit einlade die Liebe, an sich ziehe die Milde, gewinne das Mitleid, überrede die Menschengüte diejenigen, die die Herrschaft vertrieben, die Furcht zerstreut, die Gewalt von der Macht ausgestoßen hatte. S. 117„Er kam in seine Stadt, und siehe, man brachte zu ihm einen Gichtbrüchigen, der auf einem Bette lag. Und da Jesus“ heißt es,„ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gichtbrüchigen: 'Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden werden dir vergeben!'“7 Der Gichtbrüchige vernimmt das Wort „Vergebung“ und schweigt. Er äußert nicht ein Wort des Dankes, weil er mehr nach der Heilung seines Leibes als seiner Seele verlangte. So sehr beweinte er die Schmerzen seines entkräfteten Leibes, die doch nur eine Zeit dauerten, dass er die ewigen Strafen des Seelentodes nicht betrauerte, dass er das jetzige Leben höher einschätzte als das zukünftige.
Mit Recht richtete daher der Herr sein Auge auf die Erwartung derer, die ihn brachten, und sieht nicht8 auf die Verständnislosigkeit dessen, der daliegt, damit durch die Bitte fremden Glaubens die Seele des Gichtbrüchigen eher geheilt würde als der Leib. „Als Jesus ihren Glauben sah“, heißt es. Hier seht ihr, Brüder, dass Gott nicht sucht den Wunsch der Toren, nicht schaut auf den Glauben der Unwissenden, nicht erforscht die törichten Wünsche der Kranken, sondern dass er auf den Glauben eines anderen hin zu Hilfe kommt; denn aus bloßer Gnade spendete er [seine Hilfe], da er nicht verweigerte, was er mit sei nem göttlichen Willen spenden wollte. Und in der Tat, Brüder! Wann auch erfragt und berücksichtigt der Arzt den Wunsch der Kranken, da der Kranke immer das Gegenteil wünscht und fordert? Daher wendet er bald Eisen, bald Feuer an, bald flößt er auch wider den Willen der Kranken ihnen Bittertränke ein, damit sie, gesund geworden, die Arznei schätzen, die sie in ihrer Krankheit nicht schätzen konnten. Und wenn also ein Mensch Beschimpfungen nicht achtet, Schmähungen erträgt, um den wunden Menschen Leben und Gesundheit wiederzugeben aus freien Stücken, wieviel mehr wird Christus, der Arzt, in seiner göttlichen Güte auch wider ihren Willen und trotz ihres Widerstrebens die zum Heile bringen, S. 118die verwundet sind durch die Krankheiten der Sünden, die leiden unter dem Wahnsinn der Verbrechen? O möchten wir doch, Brüder, nur sehen, wenn wir doch nur vollkommen einsehen wollten die volle Auflösung unseres Geistes, wie unsere Seele ganz entblößt von Tugenden daliegt auf dem Lager der Laster! Dann würde es uns klar, wie Christus unsere täglichen Wünsche, die uns nur schaden, berücksichtigt9 und uns gegen unseren Willen hinzieht zu den Heilmitteln des ewigen Heils, ja uns dahin drängt! „Mein Sohn“, heißt es,„deine Sünden werden dir vergeben.“ Mit diesen Worten wollte er sich als den Gott zu erkennen geben, da ja wegen seiner Menschheit als Gott den menschlichen Augen bis dahin verborgen war. Denn wegen seiner Zeichen und Wunder wurde er gleichgeachtet den Propheten, die doch auch selbst nur durch ihn ihre Wunderwerke verrichteten. Aber Sünden zu vergeben, geht weit über menschliche Macht hinaus, ist einzig und allein Gott eigene Kraft. Und so legte er in die Herzen der Menschen den Glauben an ihn als einen Gott. Das beweist auch der Neid der Pharisäer; denn als er gesagt hatte: „Deine Sünden werden dir vergeben“, antworteten die Pharisäer: „Dieser lästert Gott! Denn wer kann Sünden vergeben als nur Gott allein?“10 . Pharisäer! Du bist unwissend trotz deines Wissens; du leugnest trotz deines Bekenntnisses; du lügst trotz deines Zeugnisses. Wenn Gott es ist, der Sünden nachläßt, warum ist denn für dich Christus nicht auch Gott, der durch die Gnade seiner Langmut allein die Sünden der ganzen Welt hinweggenommen hat:
„Seht“, so heißt es ja, „das Lamm Gottes, seht, das die Sünden der Welt hinwegnimmt“11 . Damit du aber noch größere Beweise von seiner Gottheit erhaltest, vernimm, wie er bis in das innere Geheimnis deines Herzens gedrungen ist; denn sieh doch, wie er die Schlupfwinkel deiner Gedanken durchschaut; erkenne doch, dass vor S. 119ihm offen liegen auch die stummsten Pläne deines Herzens. „Und da Jesus ihre Gedanken sah, sprach er: 'Warum denkt ihr Böses in euren Herzen? Was ist denn leichter zu sagen: Dir werden deine Sünden vergeben, oder sagen: Steh auf und geh? Damit ihr wisset, dass der Menschensohn Macht hat auf Erden, Sünden zu vergeben', sprach er dann zu dem Gichtbrüchigen: 'Steh auf, nimm dein Bett und geh nach Hause!' Und er stand auf und ging nach Hause.“12 . Der die Herzen kennt, überraschte die Anschläge der bösen Geister, und durch die beglaubigende Tat bewies er ihnen die Macht seiner Gottheit: er fügt die Glieder des aufgelösten Leibes zusammen, er spannt die Nerven wieder, er bindet die Knochen, füllt aus das Innere, festigt die Glieder und weckt die Füße, die gleichsam am lebendigen Leibe eingeschlafen sind, wieder zum Gehen auf. „Nimm dein Bett“, d. h. trage das, was dich trägt bis jetzt13 ; tausche alle Rollen14 , damit das, was das Zeichen der Krankheit ist, nun der Beweis für die Gesundheit ist, damit dein Schmerzensbett sei der Beweis meiner Heilung, damit die Schwere dieser Last beweise die Größe der wiedererlangten Kraft. „Geh nach Hause“, heißt es dann noch, damit du, der du durch den Glauben an Christus geheilt bist, nicht mehr verweilest auf den Wegen des jüdischen Unglaubens.
