Siebzehnter Vortrag: Über dieselbe Stelle.
S. 101Was ich jetzt mit großer Furcht sagen will, was ihr jetzt in Furcht vernehmen, ja in Furcht sogar aussprechen werdet, davor entsetzen sich die Engel, zittern die Kräfte; des Himmels Höhe faßt es nicht, die Sonne sieht es nicht, die Erde erträgt es nicht, die ganze Schöpfung erreicht es nicht. Wie könnte es dann wohl die menschliche Brust, wie des Menschen ohnmächtiger Geist? wie das kleine menschliche Herz? wie der Hauch der menschlichen Stimme, wie bei so erhabenen Dingen des Menschen Sprache, die so schnell verhallt? Als Paulus in der Vision es gesehen, offenbarte er es, ohne es zu verraten1 , indem er sprach: „Kein Auge hat gesehen, kein Ohr gehört, in keines Menschen Herz ist gekommen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“2 . Sobald Isaias solches mit seinem Ohre vernommen, zweifelte er, ob es auch Glauben finden würde bei den Menschen, indem er spricht: „Herr, Wer glaubte unserer Predigt?“3 . Als Jeremias dies durch göttliche Offenbarung empfangen hatte, ertrug er nicht die Wehen dieser göttlichen Empfindungen und rief aus:„In meinem Inneren, in meinem Inneren4 ergreift mich Weh, und meines Herzens Gefühle toben in mir“5 . Habakuk sprach hiervon unter Eingebung des göttlichen Geistes, indem er sagt: „Ich habe gewacht, und mein Inneres erschrak vor der Stimme des Gebetes meiner Lippen, und Zittern befiehl meine Gebeine, und meine Kraft wurde unter mir erschüttert“6 . Gehoben aber durch die S. 102Kraft Gottes fühlte er seine eigene Kraft unter sich dahinschwinden. Es wäre zu weitläufig, über das Geheimnis dieser Furcht noch mehr zu reden und noch mehr Beispiele der Heiligen anzuführen; die Zeit gestattet mir nicht, länger bei dieser Furcht zu verweilen; denn die himmlische Geburt kann nicht mehr zurückhalten das Ungestüm derer, die [wieder]geboren werden sollen.
Ich sage also, ich rufe euch, die ihr noch im Mutterschoße ruht, mit eindringlicher Stimme zu, mit sorglichen Worten mahne ich euch, dass ihr, bevor ihr noch die Mutter [d. i. die Kirche, die Gemeinde] seht, schon den Vater nennen möget, dass ihr schon vor den Liebkosungen der Mutter trachten und eilen möget nach dem Reiche des Vaters, dass ihr eher gelanget zu dem Brote des Vaters, als ihr euch sättigt an der Brust der Mutter. Und nichts, weder die Not der Mutter noch die Alterszeit soll über euch irgendeine Macht gewinnen, vielmehr soll alles in euch dem göttlichen Vater, dem himmlischen Schöpfer entsprechen und dienen. „Vater unser, der du bist im Himmel.“7 . Das ist es, was ich zu sagen nicht fürchtete, was ich bebte auszusprechen; das ist es, was weder einen der Himmlischen noch der Irdischen die Niedrigkeit der eigenen Knechtschaft auch nur ahnen ließ: dass nämlich zwischen Himmel und Erde, Fleisch und Gott plötzlich eine solche Beziehung eintreten könnte, so dass Gott in den Menschen, der Mensch in Gott, der Herr in den Knecht, der Knecht in den Sohn verwandelt werden sollte, dass nunmehr zwischen der Gottheit und der Menschheit auf unaussprechliche Weise eine einzige und dauernde verwandtschaftliche Beziehung bestehen sollte. Und in der Tat; der Gottheit Herablassung zu uns ist so groß, dass das Geschöpf nicht weiß, was es am meisten anstaunen soll: dass Gott sich zu unserer Knechtschaft entäußerte oder dass er uns zur Würde seines göttlichen Wesens emporhob. Daher kommt es, Mensch, dass derjenige dich auf göttliche Weise ermahnt, welcher vor unendlicher Liebe S. 103zu dir brennt; daher kommt es, dass Gott dich schon im Mutterschoße auf dein Wort hin zum Sohne annahm; daher kommt es, dass er dich nicht bloß frei werden, sondern frei geboren werden ließ. Aus diesem Grunde ließ er um deinetwillen selbst die Natur frei, dass nur ja nicht irgendein Fehler, irgendeine Makel der Abstammung aus früherem Sklavenstande an dir klebe.
Ihr Glücklichen, denen die Herrschaft verliehen ward, noch ehe ihr geboren seid; eher zu regieren, als zu leben; eher in den Besitz der Herrlichkeit des göttlichen Vaters gelangt zu sein, als die Niedrigkeit der Stammesgenossen erfahren zu haben! Eine glückliche Mutter, die Kirche, die euch als solche Kinder um sich erblickt, die, obgleich stets Jungfrau bleibend, als Mutter so vieler und vortrefflicher Kinder sich anstaunt! Längst schon wurde diese Art Geburt vorgebildet durch frühere Vorgänge. So bei Jakob, da er mit dem Bruder im Mutterschoß stritt und den Sieg erringt8 . So bei Thamar, in deren Schoß die Zwillinge um die Ehre der Erstgeburt streiten und so die Geburt verzögern: sie sind nicht so begierig das Licht zu sehen, als zu siegen9 . So bei Johannes, der eher aufhüpft und früher entgegenspringt seinem Schöpfer, als er aus dem Schoße seiner Mutter hervorgeht10 . Wenn nun schon menschliche Sprößlinge in solcher Weise für Gott streiten, bevor sie ihren Eltern geboren sind, ehe sie der Welt leben: was nimmt es uns dann wunder, wenn der Kirche göttliche Sprößlinge, wenn Gottes Nachkommenschaft noch im Mutterschoße befindlich sich vor ihm ihrer himmlischen Abkunft rühmen? „Vater uns, der du bist im Himmel.“ Staunen erhebt sich: Christus entsprossen aus dem Schoße des Vaters, nennt und bekennt eine Mutter auf Erden. Und der Mensch, aus dem Leibe der Mutter, nennt und preis seinen Vater im Himmel:„Vater unser, der du bist im Himmel!“
Wie hoch hat dich, Mensch, so plötzlich erhoben die Gnade! Bis wohin hat dich emporgerissen die himmlische Natur, dass du, noch im Fleische und noch auf der S. 104Erde befangen, schon das Fleisch und die Erde nicht mehr kennst, da du sprichst: „Vater unser, der du bist im Himmel“? Wer sich also als Sohn eines solchen Vaters bekennt und glaubt, der entspreche auch durch sein Leben seiner Abstammung, durch seine Sitte seinem Vater, durch Geist und Tat bekunde er, was er erhalten hat durch die himmlische Natur! „Geheiligt werde dein Name.“11 . Von wem wir abstammen, nach dessen Namen werden wir auch immer genannt. Und deshalb bitten wir, dass in uns die Heiligkeit jenes Namens fortdauere, als Ehrenkrone und Vorrecht jenes Namens, den so sehr verherrlichte des hohen Vaters Erhabenheit. „Zukomme uns dein Reich.“12 . Nicht für den erflehen wir das Reich, dem es niemals mangelte, der ja selbst ist das Reich und der alle Gewalt des Reiches in sich beschließt. Vielmehr will er, dass wir zur verheißenen Herrlichkeit des Reiches gelangen sollen, und darum mahnt er uns auch zu bitten aus ganzem Herzen, wie er auch will, dass wir mit ganzem Geiste darnach streben. Denn wie nur der Unvernünftige noch über seine Abstammung Untersuchungen anstellt, so wäre auch feige der, welcher nicht voll Freude und voll Begierde und voll Eifer wäre13 , wenn es sich darum handelte, das verheißene Reich zu erstreben und zu erreichen.
„Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden.“14 . „Wie im Himmel, also auch auf Erden“: dann ist alles Himmel; dann bewegt der eine Geist Gottes alle; dann sind alle in Christus und Christus in allen, wenn alle nur Gottes Willen kennen und vollbringen; dann sind alle eins, ja einer, wenn allein Gottes Geist in allen lebt! „Unser tägliches Brot gibt uns heute.“ Wie es im Psalme heißt: „Gepriesen sei der Herr alle Tage“15 , so heißt es hier: „Unser tägliches Brot gib uns heute“. Was S. 105immer fortdauert, nennen wir täglich; das immer währende Brot ist jenes, das vom Himmel herabgestiegen ist:„Ich bin das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“16 . Das ist also das Brot der vollkommenen Glückseligkeit. „Heute“, d. h. im gegenwärtigen Leben, beginnen wir schon von der Speise dieses Brotes zu leben, durch dessen Genuß wir ewig das bedeutet „täglich“ in alle Zukunft gesättigt werden. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“17 . Aus der Brust des Bittenden bricht der Quell der eigenen Vergebung hervor und fließt wieder zur Vergebung zurück, was immer an Güte einer ergießt und ausströmt auf den Nächsten, dadurch erweist er sich selbst ebensoviel Bermherzigkeit, als er dem Nächsten vergeben hat. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Eine gewaltige Macht besitzt der Mensch, da er mit Gott im Erbarmen wetteifert, indem er verlangen darf, dass ihm soviel wiedergegeben werde, als er selbst gegeben hat, dass ihm so viel geschenkt werde, als er selbst geschenkt hat. Mensch bewahre dir stets in deiner Brust ein versöhnliches Herz, wenn du keine Furcht empfinden willst ob deiner Sünden!
„Und führe uns nicht in Versuchung.“18 . Dies bedarf der Erklärung [nicht]19 , weil ja die Versuchung ist die Dienerin des Teufels, die zuvorkommende und verführerische Dienerin. Darum bedürfen wir, so lange wir in diesem gebrechlichen Leibe wohnen, notwendig der Bitte, es möge nie der Versuchung der Zutritt zu uns noch dem Teufel ein Angriff gegen uns gestattet sein. „Sondern erlöse uns von dem Übel.“20 . Er selbst ab er, der Herr, unser Gott, erlöse uns von dem Bösen und führe uns hin zu dem Guten, er, der da lebt und regiert, Gott jetzt und immer, in alle Ewigkeit. Amen.
prodidit non prodendo ↩
1 Kor 2,9 ↩
Is 53,1 ↩
eigentlich: „in meinem Bauche“;daher vorher der Ausdrücke concepisset und partus ↩
Jer 4,19 ↩
Hab 3,16 ↩
Mt 6,9 ↩
Gen 25,22 ↩
Gen 38,27-30 ↩
Lk 1,41. 44 ↩
Mt 6,9 ↩
Mt 6,10 ↩
gaudet, aestuat, anhelat ↩
Mt. 6,11 ↩
Ps 67,20; das Wortspiel hodie quotidie läßt sich nicht übersetzen ↩
Joh 6,51 ↩
Mt 6,12 ↩
Mt 6,13 ↩
Ich füge mit Januel dem Sinn entsprechend non ein ↩
Mt 6,13 ↩
