Elfter Vortrag: Über die Stelle: „Habt acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt...“ bis: „was deine rechte tut.“ Mt 6,1-3
Gott nimmt sich unser an, Gott sorgt für uns in dieser Welt, damit uns nichts verloren gehe für die Ewigkeit. Dies geht aus dem Anfang unserer Lesung selbst hervor. „Habt acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt, um von ihnen gesehen zu werden; sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater, der im Himmel ist.“1 . Wie aber kann das, was von Menschen geschieht, den Menschen unbekannt bleiben? Mag auch die innere Absicht einer offenkundigen Gerechtigkeit verborgen bleiben: was aber bedeutet das Geheimbleiben einer öffentlichen Tat? Wer die Strahlen der Sonne verdunkeln kann, wird auch den Glanz der Gerechtigkeit verbergen können [Gemeint ust Gott]. Die Gerechtigkeit aber,2 das Licht der Welt, wird nicht verhüllt durch die geheime Absicht. Die Gerechtigkeit erleuchtet alle durch ihr Beispiel, sobald sie durch die Tat ans Licht gekommen ist. Und warum will der Herr, dass sie nicht vor den Menschen geschehe, wo doch durch sie die menschlichen Verhältnisse allein bestehen können? Wo bleibt denn S. 71die Mahnung: „So leuchte euer Licht vor den Menschen, dass sie eure guten Taten sehen und euren Vater preisen, der im Himmel ist!“3 . Warum will er, dass die Gerechtigkeit verborgen bleibe, wo er will, dass die Taten so leuchten sollen? Brüder! Diese himmlische Vorschrift will nur die Aufgeblasenheit fernhalten, den äußeren Prunk4 beseitigen, die Eitelkeit wegnehmen, alle Ruhmsucht bannen. So will er, dass die Gerechtigkeit verborgen bleibe. Die Gerechtigkeit, die aus sich für sich überreich fließt zur Ehre, sucht nicht den Schauplatz des Volkes, das Lob des Pöbels, Gunst vor den Menschen, Ehre vor der Welt; aus Gott geboren, schaut sie zum Himmel; vor den Augen Gottes wandelt sie; mit übernatürlicher Kraft verbunden, erwartet sie ihre Ehrung nur von Gott allein. Denn das ist die Gerechtigkeit, die aus Gott geboren ist; jene Gerechtigkeit aber, die Heuchelei ist, ist nicht [wahre Gerechtigkeit]: sie täuscht die Augen, trügt den Blick, verhöhnt die, die sie sehen, verführt die, die sie hören, bezaubert die Menge, reißt die Massen hin, erkauft sich Ruhm und erwirbt sich Beifall; die geschieht vor der Welt, nicht vor Gott; sie erhascht sich irdischen Lohn, sucht ihren Lohn nicht im Jenseits; sie blendet die Augen, sie ist selbst blind und nicht sehend, will aber gesehen werden5 . Dieser Blindheit wegen beginnt Christus in seinem Gebot also: „Habt acht!“d. h. trachtet nicht darnach, beachtet zu werden. „Dass ihr eure Gerechtigkeit nicht übt vor den Menschen.“ Warum? „Um von ihnen gesehen zu werden.“ Und wenn sie wirklich gesehen werden? Was dann? „Sonst werdet ihr keinen Lohn haben bei eurem Vater, der im Himmel ist!“
Brüder! Hier richtet der Herr nicht, sondern er enthüllt nur, er macht offenbar den Betrug der Gedanken; er legt klar die geheimen Gedanken des Geistes: kündigt denen, die ihre Gerechtigkeit in ungerechter Weise üben, das Maß der gerechten Vergeltung an. Die Gerechtigkeit, S. 72die sich vor den Augen der Menschen breit macht, kann keinen Lohn des göttlichen Vaters erwarten: sie wollte gesehen werden und ward auch gesehen; sie wollte den Menschen gefallen und gefiel ihnen auch; sie hat den Lohn, den sie wollte; den Lohn, den sie nicht haben wollte, wird sie auch nicht besitzen. Warum wir dies vorausgeschickt haben, wird aus dem folgenden klar werden. „Wenn du Almosen gibst, so posaune es nicht vor dir her, wie die Heuchler tun!“6 . Ganz mit recht wird hier das Wort tuba, Posaune gebraucht. Denn ein solches Almosen ist das Almosen nicht eines friedlichen Bürgers, sondern eines kriegerischen Feindes7 ; es ist nicht wegen der Barmherzigkeit, sondern wegen des äußeren Lärms geschehen; es ist ein Kind des Aufruhrs, nicht aber ein Diener der Liebe; es ist ein marktschreierischer Artikel, nicht ein Wechsel der Liebe8 . Wer das Almosen ausschreit, entehrt es. „Du aber“, heißt es,„wenn du Almosen gibst, posaune es nicht vor dir aus, wie die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Straßen, um von den Menschen gesehen zu werden. Wahrlich, sage ich euch: sie haben ihren Lohn schon empfangen!“9 Ihr hört, wie er das Almosen, das vor versammelter Volksmenge, auf den Straßen und auf den Plätzen gegeben wird, nennt; es wird nicht gespendet zur Erleichterung [der Not] der Armen, sondern zur Schau gestellt für die Gunst der Menschen, da diese Menschen so beweisen, dass sie die Barmherzigkeit [selbstsüchtig] verkaufen, aber nicht [freigebig] anbieten. Brüder! Fliehen, ja fliehen müssen wir die Heuchelei, die den Ruhm gefangen hält, die Verschämtheit des Armen nicht verdeckt, sondern nur noch mehr belastet; aus dem Seufzer des Armen sucht sie die Pracht ihrer eigenen Ehre; ihr eigenes Lob bereichert sie aus dem Schmerze des Armen; S. 73das Elend des Bettlers nimmt sie sich zum Lob ihrer eigenen Prahlerei.
Aber es könnte jemand einwenden: Also soll vor versammelter Menge, auf den Straßen und auf den Plätzen die Barmherzigkeit nicht geübt werden? Soll da keine Lebensnahrung dem Armen geboten werden? Mit nichten! Überall und zu jeder Zeit soll die Barmherzigkeit geübt werden, Lebensnahrung gereicht werden, die Blöße bedeckt werden; aber nur so, wie der Meister der Barmherzigkeit10 es gelehrt hat, damit die Barmherzigkeit nicht der Erde, sondern dem Himmel bekannt sei, nicht den Menschen, sondern Gott geweiht sei. Auf den Straßen und auf den Plätzen hat gewiß die Liebe ihren stillen Wirkungskreis11 ; ja gerade sie, die Straßen und die Plätze sind es12 , da ja auch der Heuchler im geheimen nichts Geheimes tut. Brüder! Der Herr beschuldigt hier durch seine Mahnung nicht den Ort, sondern die innere Gesinnung; den Geist, nicht das Werk; die Absicht, nicht den Geber; er tadelt den, der gibt seines eigenen Ruhmes wegen, nicht des Hungers des Armen wegen13 ; er richtet nicht den Ort oder die Zeit, wo du wirkst, wann du wirkst, sondern die Art und Weise, wie du wirkst; denn Gott bemißt die Tat nach der inneren Gesinnung, nicht nach der äußeren Handlungsweise; nach der Absicht, nicht nach dem Ort der Taten bewertet er sie. Er will, dass die Barmherzigkeit vor ihm selbst geschehe14 , er, der allein der Vergelter und Zeuge der Barmherzigkeit ist und gesagt hat: „Ich war hungrig und ihr gabt mir zu essen“15 . Er will, dass man in dem Armen ihm die Gabe schenkt; und er, der will, dass man ihm gebe, will darum auch, dass er der Schuldner dafür sei, und eil er der Schuldner für die Gabe sein will, will er auch, dass den Gebern nichts verloren gehe. Gott verlangt nur wenig S. 74und gibt sehr viel zurück. Wenn du, Mensch, also Gott in den Armen auf Wucher leihest16 , suche nicht nach menschlichen Zeugen; der Glaube braucht keinen Richter17 . Bedenken über den Glauben18 des Empfängers trägt der, der nichts geben will ohne Mittler; wer Geliehenes offen ausposaunt, brandmarkt den Schuldner mit Beschämung.
Wenn du, Mensch, also Gott geben willst, gib im geheimen, damit das, was du gegeben hast, dir eine Ehre, keine Beschämung sei19 . Darum kommt zu dir dein Vergelter im Armen, damit du nicht zweifelst, dass er dir wiedergeben werde, was du gegeben hast, der dir doch auch umsonst zum Besitze gegeben hat, was du [einem andern] geben konntest. Wie sehr aber in dem Armen die Verschämtheit zu achten ist, sagt klar der, der deine Freigebigkeit im verborgenen geschehen wissen will, indem er spricht: „Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut!“20 . Siehst du, wie wenig er einen andern zum Mitwisser haben will, da er sogar will, dass ein Teil deines Leibes nicht wisse, was du tust? „Deine linke Hand soll nicht wissen, was deine rechte tut.“ Wie uns zur Rechten die Tugenden stehen, so stehen uns zur Linken die Laster21 . Wie also es ein Werk der Rechten sein muß, was ein verschwiegener Gebet tut, so ist es das Werk der Heuchelei, was ein geschwätziger Geber verrichtet. Heuchelei, Trug, Verstellung, List, Lüge, Stolz, Aufgeblasenheit, Prahlerei bedrohen und bedrängen uns von der Linken her. Was aber immer von uns mit Liebe und Güte und Barmherzigkeit geschieht, das soll die Linke S. 75nicht kennen. Die linke Hand ist es, die uns immer den Kampf des Geistes ansagt und sich abmüht, dass die Tugenden nicht zur Tat gelangen. Gegen die Herzensliebe streitet die Herzlosigkeit; gegen den Sieg des Almosens die Begierde. Es wütet die Habsucht, damit die Barmherzigkeit nicht ihren Segen spende; damit Unschuld und Reinheit und Einfalt und Heiligkeit nicht zum Siege komme, streitet die Heuchelei, die Christus von uns durch diese Mahnung verbannt wissen will: „Wenn du Almosen gibst, soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut.“ Brüder! Laßt uns fliehen in dieser Welt, was von der linken Seite kommt, wenn wir wünschen, in der jenseitigen Welt zur Rechten zu stehen und zu hören: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt in Besitz das Reich, das euch bereitet ist vom Anbeginn der Welt!“22 . Mensch! Gib auf Erden dem Armen, wenn du willst, dass es dir bleibe im Himmel. Mensch! Kämpfe hier mit dem Armen, wenn du dort herrschen willst mit dem Herrn selbst, der hochgepriesen ist in alle Ewigkeit. Amen.
Mt 6,1 ↩
Chrysologus fast justitia sowohl im Sinne von der gerechten inneren Gesinnung, als auch von der Äußeren gerechten Tat; ebenso später Misericordia. ↩
Mt 5,16 ↩
Pompa ↩
Caeca ipsa non videns vult videri. ↩
Mt 6,2 ↩
Hostilis, non civilis; unter tuba ist die Kriegsposaune verstanden. ↩
Ostentationis nundinatio, non commercium caritatis. ↩
Mt 6,2 ↩
Auctor misericordiae ↩
Secretum ↩
wo die Barmherzigkeit geübt werden soll ↩
Ein Wortspiel im Lateinischen: ad suam famam, nun ad pauperis famem ↩
Ich lese mit Januel coram se solo statt solum bei Migne ↩
Mt 25,35 ↩
Feneras; vgl. Spr 19,17 ↩
Fides arbitros non requirit. Held [S. 247] übersetzt wohl unter Vorwegnahme des folgenden Gedankens: „Gottes Treue bedarf keiner Bürgschaft.“ ↩
= Treue ↩
non sit oneris, sed honoris ↩
Mt 6,3 ↩
vgl. Spr 5,27;Ez 4,4ff.; ↩
Mt 25,34 ↩
