Dreizehnter Vortrag: Über dieselbe Stelle.
Der sterbliche Mensch, dies Gebilde aus Erde, dies erdhafte Wesen, das des Lebens und des Todes gleich unsicher ist, aufgerieben durch die Arbeit, aufgezehrt durch [ein Leben der] Strafe, eine dem Kot und dem Schmutz unterworfene Natur kann nicht fassen, vermag nicht zu ermessen, wagt nicht zu vertreiben1 , fürchtet sich aber zu glauben das, was sie heute zu bekennen gezwungen wird. Wie eine so große Gnade unter all den Gnaden Gottes, der Gipfelpunkt unter seinen Versprechungen, diese Gabe unter den Geschenken [Gottes] verdient werden könnte, kann menschliche Schwäche nicht erfinden. Das, glaube ich, hat auch der zweifelnde Prophet Habakuk in seinem geistigen Schauen nicht vorhergesehen, der sagt, er sei von so großer Furcht erschüttert, durch die Furcht vor dieser Kunde so sehr in Schrecken gesetzt: "Herr, ich habe dein Wort vernommen und fürchte mich. Ich habe deine Werke betrachtet S. 81und bin erschrocken"2 . Er fürchtet sich vor der Kunde, nicht weil damals der so große Prophet den Herrn gehört hatte, sondern weil damals der Knecht von seinem Herrn vernimmt und hört, dass er zu ihm sich gewendet habe als Vater. Nicht fürchtete er sich, weil er sieht, dass die Werkstätte dieser Welt zusammenklingt in Harmonie mit Elementen, die sonst so unharmonisch sind, sondern weil er, die Werke dieser so großen Liebe zu ihm betrachtend, von bewundernder Furcht und Angst erschüttert ist. "Ich habe betrachtet",heißt es, "deine Werke und bin erschrocken." Er entsetzt sich darüber, dass er als Sohn an Kindesstatt angenommen sei, wo er das gläubige Vertrauen selbst des Knechtes verloren hatte. Damit ihr aber nunmehr auch die Liebe in jenem Gebete, das euch heute Gott eingibt und einflößt, erkennt, so hört, was der Prophet nun zu sagen wagt, nachdem er von dem Schrecken ob dieses himmlischen Geschenkes sich befreit hat. "Ich habe", heißt es, "gewacht und es erbebte mein Inneres vor der Stimme des Gebetes meiner Lippen"3 . Nachdem er die Güte des göttlichen Geschenkes erkannt hatte, bewachte er sich, damit er [d. i. Gott] ihn nicht als Feind, als Gegner, als Räuber wieder im Paradiese betrachten müßte. Er wird ein behutsamer, ein besorgter Wächter seiner selbst, er, der nach dem Verlust einer so großen Gnade den himmlischen Schatz in irdenen Gefäßen4 bewachte.
"Und es erbebte mein Inneres5 ." Den Bauch nennt hier der Prophet das Innere des Herzens. Denn wie der Bauch durch die Speisen, so wird das Herz durch die Sinne genährt und erfüllt. "Und es erbebte mein Inneres vor der Stimme des Gebetes meiner Lippen." Wenn das Wissen des Herzens dem Munde die Stimme eingegossen, den Lippen die Worte gegeben hatte warum erbebt er denn vor seinen Wünschen, seinem Verlangen, vor dem, was er S. 82sich erflehen wollte? Weil er nicht spricht durch die Einflüsterung seines Herzens, sondern durch die Eingebung des göttlichen Geistes!6 . Hört, was der Apostel sagt: "Gott sandte den Geist seines Sohnes in eure Herzen, der ruft: Abba, Vater!"7 . Als er diese Kunde in seinem Innern vernahm, staunte er, solches verdient zu haben, und das ganze Innere des Menschen erbebte. Mit Recht fügt er also hinzu: "Und Schrecken erfülle meine Glieder", weil selbst das Innere8 des Propheten ergriffen war. "Und unter mir", heißt es weiter, "wurde erschüttert meine Kraft."9 Was heißt das: "Unter mir"? Gewiß, dass10 eben derselbe Mensch, der erhoben wurde durch die Gnade, unten liegt durch die alte Natur, und dass irdische Kraft nicht ertragen kann die himmlische. Schon rauchte der Berg Sina, als Gott, um das Gesetz zu geben, auf den Berg stieg11 . Was sollte das Fleisch tun, als Gott in das Fleisch hinabstieg, um dem Fleische seine Gnade zu erteilen? Es kam der Vater [zu dem Menschen], weil der Mensch nicht den Gott, der Knecht nicht den Herrn tragen konnte.
Und weil er getreu ist in seinen Worten, die er gesprochen: "Öffne deinen Mund, und ich werde ihn füllen"12 : so öffnet nun euren Mund, damit er selbst ihn fülle mit solchem Gebet und solchem Rufen: "Vater unser, der du bist im Himmel."13 Wo sind die, die der göttlichen Verheißung mißtrauen? Seht doch wie schnell das Bekenntnis des Glaubens14 belohnt wird! Sobald du Gott als den Vater des einzigen Sohnes bekannt hast, bist du selbst angenommen als Sohn des Vaters, an Kindesstatt, damit du S. 83seiest des Himmels Erbe, der du verbannt warst aus Paradies und Erde, und damit du nun rufest: "Vater unser, der du bist im Himmel!" Einmal war er dir Vater, er, der dich in Staub auflöste, dich hinführte und hinabzog in das Gefängnis der Unterwelt. Und so soll der die Erde nicht kennen, nichts wissen von der Liebe zum Fleische, den Vater des Staubes [den Teufel] nicht suchen, nichts von Sünde sich erlauben, der Gott sich als Vater erbittet zur himmlischen Natur. Und wer sich als Sohn Gottes glaubt, möge durch die Tat, sein Leben, seine Sitten, seine Ehrenhaftigkeit entsprechen einem solchen Geschlechte, damit er nicht wieder zu der Welt hinabsteige und einem so großen Vater Schmach antue. "Geheiligt werde dein Name."15 . Wenn der Name Christi den Blinden das Gesicht, den Lahmen das Gehen, den an mancherlei Krankheiten Darniederliegenden Gesundheit, den Toten das Leben wiedergibt16 , ja dich, Mensch, selbst und die ganze Schöpfung heiligt, wie bittest und flehst du denn die Heiligkeit seines Namens? Denn von "Christus" heißest du "Christ"17 . Und deshalb bittest du darum, dass das Vorrecht dieses so großen Namens gestärkt werde durch deine nachfolgenden guten Werke.
"Zukomme uns dein Reich."18 . Er befiehlt, dass wir erwarten, ja verlangen, ja selbst wünschen, [dass sein Reich komme,] er, der seine Ankunft in seiner Gewalt hat. Der treue Soldat dürstet nach der Anwesenheit seines Königs; erwartet das Reich, verlangt und begehrt nach Siegestriumph. Aber hier bittest du, dass er komme, um zu herrschen für dich und in dir, wo doch in dir der Teufel seine Burg, der Tod seine Herrschaft, die Unterwelt aufgerichtet hielt so lange ihre Macht. Laßt uns also bitten, Geliebteste, dass Christus immer in seinem Soldaten herrsche und dass der Soldat immer triumphiere in seinem Könige! S. 84"Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden."19 . Glückselig jener Tag, der alle Willen der Staubgeborenen einigt, verbindet und ausgleicht mit [dem] der Bewohner des Himmels, so dass zwischen so ungleichen Wesen doch nur ein und derselbe Wille herrscht! Das ist Friede, unerschütterte Eintracht, dauernde Gnade, wenn nach dem Befehle des einen Herrn die Familie, ob auch von Natur so verschieden, doch im Willen einig und in der Gesinnung gleich erfunden wird. "Unser tägliches Brot gib uns heute."20 . Im himmlischen Reiche wer sollte noch zeitliches Brot erflehen? Aber er will, dass wir das tägliche Brot, und gerade für den [einzelnen] Tag das nährende Brot im Sakramente seines Leibes, damit wir dadurch zu dem ewigen Tag und zu dem Tische Christi selbst gelangen und so von dem [Brote], von dem wir hier nur einen Vorgeschmack erhalten haben, dort die Fülle und volle Sättigung erlangen. "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern."21 . Wer so bittet und doch nicht die Schuld erläßt, klagt sich gerade durch seine Bitte an. Wer aber bittet, dass ihm insoweit gegeben und nachgelassen werde, als er selbst nachläßt und gibt, ladet Gott ein zu solchem Wohlgefallen, ja zu einem Vertrage. Wieweit jeder dem andern gibt, soweit soll er auch selbst fordern, dass ihm gegeben werde. Wir, Brüder, müssen aber nachlassen nicht nur Geldschulden, sondern alle Prozeßstreitigkeiten, alle Vergehen, alle Sünden. Was auch immer du, Mensch, dir selbst zuziehen kannst, das wirst du alles verzeihen [müssen], wenn ein anderer sich darin gegen dich verschuldet. Im S. 85Glauben darf der für seine Sünden Verzeihung fordern, der dem gegen ihn Sündigenden gerne verzeiht.
"Und führe uns nicht in Versuchung."22 . Dies tausendmal zu fordern, werden wir, Brüder, in mannigfacher Weise gezwungen, damit nicht die Schwäche [in uns], die sich mehr zutraute und sich zu sehr frevelhaft erhob, und nicht das Maß ihrer Kräfte beachtete, in dem Kampfe unterliege wegen des Mangels an Vorsicht, und damit dann der beleidigte Gott nicht die den Versuchungen überlasse, denen er sich entzogen hat. "Sondern erlöse uns von dem Übel."23 . Genug demütig denkt von sich und maßt sich nicht an, durch sich selbst geheilt zu werden, wer bittet, dass er durch Gott von dem Übel befreit werde. Bezeichnet euch mit dem Zeichen des Kreuzes!24 Erkennet meine Kindlein, wie groß der Vollkommenen und Starken Ruhm und Macht ist, wenn eine solche Kraft gleich bei der Empfängnis und eine solche Herrlichkeit gleich bei der Geburt sich zeigt! Der noch nicht geboren ist, ruft den Vater, fordert die Heiligkeit, erbittet sich das Reich, spricht Recht über die Erde, verbindet irischen Willen mit himmlischem und fordert für die Mühen, die erst in der Zukunft liegen, jetzt schon in seiner Ergebenheit den Lohn: "Unser tägliches Brot gib uns heute, heißt es ja. Glücklich seid ihr, die ihr begonnen habt, vor der Schlacht zu sie gen, eher zu triumphieren als zu siegen, eher zu den Reichtümern des [himmlischen] Vaters als zu dem Schoß der [irdischen] Mutter [Kirche] zu gelangen, eher die [feste] Nahrung der Herde als den Trank der Milch zu sich zu nehmen, eher in den lauten Jubel des Sieges auszubrechen, als mit dem Gewimmer der Wiege zu antworten. "In Wahrheit", wie der Apostel sagt, "ist das Schwache an Gott stärker als die Menschen."25 . Oder wer wird das Geheimnis einer solchen Empfängnis schildern können, wo die S. 86jungfräuliche Mutter [Kirche] täglich auf dem ganzen Erdkreis gebiert, die Nachkommen nicht der Mühe überantwortet, sondern die Sprößlinge führt zur ewigen Herrlichkeit!
fugare:Ich vermute hier eine Textverderbnis ↩
Hab. 3,2 LXX ↩
Hab 3,16 ↩
vgl. 2 Kor 4,7 ↩
expavit venter meus ↩
Ich lese mit Januel afflatu statt affatu bei Migne ↩
Gal 4,6 ↩
eigentlich: "Eingeweide", viscera ↩
Hab. ebd. ↩
statt quatenus liest Januel quia unus ↩
Ex 19,18;Dt 4,11 ↩
Ps 80,11. Nach LXX pläroso; die Vulgata liest dilata ↩
Mt 6,9 ↩
d. i. die redditio symboli ↩
Mt 6,9 ↩
vgl. Mt 11,5 u. Is 61,1 ↩
A Christo vocatus es Christianus ↩
Mt 6,10 ↩
Mt 6,10 ↩
Mt 6,11 ↩
Mt 6,12 ↩
Mt 6,13 ↩
Mt 6,13 ↩
Signate vos! ↩
1 Kor 1,25 ↩
