10.
Wenn ihr nun also glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, weil sich ja eure Lehre von der Irrlehre der Heiden stark unterscheide, dass wir uns dagegen im Irrtum befänden, weil wir nun einmal weiter von euch entfernt seien als von den Heiden, dann könnte man mit gleichem Recht behaupten, der Tote sei gesund, da er ja nicht mehr krank sei, und dem Gesunden seine Gesundheit zum Vorwurf machen, weil er dem Kranken näher sei als dem Toten. Oder aber – falls man den Grossteil der Heiden nicht zu den Kranken, sondern zu den Toten rechnen wollte – man könnte die gestaltlose Asche im Grab rühmen, weil sie schon nicht mehr die Gestalt des Leichnams besitze, die lebendigen Glieder des Körpers dagegen tadeln, weil sie dem Leichnam ähnlicher seien als der Asche. Solchen Tadel nämlich, glauben diese Menschen, hätten wir verdient, da sie ja behaupten, wir seien dem Leichnam der Heiden ähnlicher als der Asche der Manichäer. Dabei ist es doch geläufig, dass man Gattungsbegriffe jeglicher Art nach verschiedenen Kriterien bald so bald so aufteilt, um sie zu gliedern, sodass sich ein Glied, das in der einen Gruppe war, nach einem andern Kriterium sich in einer andern Gruppe wieder findet, wo es vorher nicht hingehörte. Wenn man zum Beispiel sämtliche fleischlichen Lebewesen in flugtaugliche und solche, die nicht fliegen können, einteilt, dann sind nach diesem Kriterium die Vierfüssler den Menschen ähnlicher als den Vögeln; denn sie sind ja gleich wie sie flugunfähig. Wenn man dagegen nach einem andern Kriterium aufteilt, indem man sagt, es gebe vernunftbegabte und vernunftlose Lebewesen, dann sind die Vierfüssler schon den Vögeln ähnlicher als den Menschen; denn sie haben ja auch keinen Anteil an der Vernunft. Dies liess Faustus ausser Acht, als er behauptete (538,19-21): Wenn du also fortan nach eigenständigen Religionen suchst, werden es nicht mehr als zwei sein, nämlich jene der Heiden und die von uns, deren Glaubensinhalte den ihrigen völlig widersprechen. Dabei nahm er natürlich Bezug auf seine Feststellung, dass der grösste Unterschied zwischen Heiden und Manichäern darin bestehe, dass die Heiden alles von einem einzigen Prinzip herleiten, was die Manichäer bestreiten, indem sie ein zweites Prinzip hinzufügen, das Volk der Finsternis (537,12). Folgt man diesem Kriterium – dies ist zuzugeben –, denkt der Grossteil der Heiden wie wir. Faustus sah allerdings nicht, dass man die Teilung auch anders vornehmen kann, indem man bei der Gesamtheit derer, die eine Beziehung zum Göttlichen haben, unterscheidet zwischen jenen, die sich für den Monotheismus, und jenen, die sich für den Polytheismus entschieden haben, und dass dann nach diesem Kriterium die Heiden uns fern stehen, und die Manichäer auf der Seite der Heiden, wir auf der Seite der Juden stehen. So könnte man also, auch wenn man diesem Kriterium folgt, der Meinung sein, dass es nur zwei eigenständige Religionen gibt. Hier würdet ihr vielleicht einwenden, dass ihr für eure vielen Götter eine einzige Substanz postuliert, als ob nicht auch die Heiden behaupteten, dass ihre zahlreichen Götter aus ein und derselben Substanz bestehen, obwohl sie ihnen verschiedenartige Pflichtenbereiche, Tätigkeiten, Befugnisse zuweisen, so wie bei euch der eine Gott das Volk der Finsternis niederzwingt (545,27), ein zweiter nach dessen Überwältigung aus ihm den Kosmos aufbaut (545,29), ein dritter ihn von oben her in der Schwebe hält (546,2), ein weiterer ihn von unten her trägt (546,5), wieder ein anderer zuunterst die Feuer–, Wind- und Wasserräder in Schwung hält, nochmals ein anderer am Himmel kreist und mit seinen Strahlen die Partikeln eures Gottes sogar aus den Abwässern einsammelt. Und wer zählt all die fabulösen Aufgaben all eurer Götter auf, die in keiner Weise Enthüllungen durch die Wahrheit, in keiner Weise Modellbilder durch Verhüllung sind? Wenn sodann ein dritter (547,11) die gesamte Menschheit nach einem weiteren Kriterium gliedern möchte, indem er erklärt, die eine Seite glaube daran, dass Gott sich um die menschlichen Angelegenheiten kümmere, die andere Seite aber glaube überhaupt nicht daran, dann vertreten auf der einen Seite die Heiden, die Juden, ihr Manichäer und sämtliche Häretiker, die sich in irgendeiner Form als Christen bezeichnen, mit uns zusammen die gleiche Meinung, auf der andern Seite aber befinden sich die Epikuräer und andere, die wie sie denken. Ist etwa dieses Kriterium bedeutungslos? Was hindert uns also daran, auch nach diesem Kriterium zu behaupten, es gebe nur zwei eigenständige Religionen, sodass ihr euch in einer der beiden als unsere Partner wiederfändet? Oder wäret ihr so dreist, bei dieser Aufgliederung von uns abzurücken, die wir verkünden, dass Gott sich der menschlichen Angelegenheiten annimmt, und euch mit den Epikuräern zusammenzutun, die dies leugnen? Nein, da würdet ihr jene gewiss verschmähen und auf unsere Seite rennen! Und so findet sich jeder, je nach Wahl des Kriteriums, bald hier, bald dort, hat nach der einen Seite Verbindungen, nach der andern keine, abwechslungsweise sind alle andern mit uns zusammen, und wir mit allen andern, bald wieder ist keiner der andern mit uns zusammen, und wir mit keinem von ihnen. Wenn Faustus dies bedacht hätte, hätte er wohl nicht so viel Rhetorik aufgewendet, um diesen Unsinn zu erzählen.
