2.
Mögen Mißgunst und Neid fernbleiben! Niemand soll mich der Schmeichelei bezichtigen. Als Unbekannter schreibe ich an eine mir wenigstens der äußeren Erscheinung nach Unbekannte. Der innere Mensch freilich ist mir wohl bekannt, so wie auch Paulus die Kolosser und viele Gläubige kannte, obwohl er sie vordem nie gesehen hatte. 1 Wie sehr ich von den Verdiensten oder besser von der wunderbaren Erscheinung unserer Jungfrau entzückt bin, ergibt sich aus folgendem. Ich war gerade beschäftigt mit der Deutung des Tempels bei Ezechiel, einer Stelle, die zu den schwierigsten der Hl. Schrift gehört. Ich war bei der Schilderung des Allerheiligsten und des Rauchopfers angelangt, 2 als ich mir die angenehme Abschweifung erlaubte, von diesem Altare zu einem anderen überzugehen und der ewigen Reinheit ein lebendiges, Gott wohlgefälliges und völlig makelloses Opfer darzubringen. 3 Ich weiß wohl, daß unter dem Gebet des Bischofs der heilige Brautschleier das jungfräuliche Haupt bedeckte, wobei er sich des berühmten Wortes des Apostels bediente: „Ich will euch alle dem Herrn aufopfern als reine Jungfrau.“ 4 In dieser Stunde wurde sie der Königin gleich, die zur rechten Seite des Königs steht S. 242 im golddurchwirkten, vielfarbigen Kleide. 5 Mit diesem bunten Gewande, in reichstem Maße von mannigfaltigen Tugenden durchflochten, war auch Joseph geschmückt. 6 Königstöchter pflegten es einst zu tragen. Darum spricht auch die Braut voller Freude: „Der König hat mich eingeführt in sein Gemach.“ 7 Und der Chor der Gefährtinnen antwortet: „Alle Herrlichkeit der Königstochter liegt in ihrem Inneren.“ 8 Immerhin wird auch mein Brief noch etwas Nutzen stiften können. Durch den Beifall der Zuschauer wird der Lauf der Rosse stürmischer. Zurufe regen den Mut der Faustkämpfer an. Wenn das Heer kampfbereit dasteht, wenn die Schwerter gezückt sind, dann wirkt des Feldherrn Wort wie ein zündender Funke. So will auch ich in dieser Schrift begießen, was Großmutter und Mutter gepflanzt haben, und der Herr wird das Wachstum verleihen. 9
