[Vorwort]
Es ist auffallend, wie weitverzweigt die Fäden waren, die zwischen Bethlehem und Gallien hin und her liefen. Im Süden dieses Landes war Hieronymus nicht weniger bekannt als in Rom. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, wenn Rusticus aus Marseille, 1 ein gebildeter junger S. 215 Mann aus wohlhabender Familie, der sich den Mönchsberuf auserkoren hat, sich in dieser Angelegenheit nach Bethlehem wendet, um sich Rats zu erholen. Die von Hieronymus übersandte Antwort ist ein Handbüchlein für Kandidaten des mönchischen Lebens, ein Gegenstück zu dem Briefe an Nepotian. 2 Wenn es auch der persönlichen Züge nicht entbehrt, so ist das Schreiben im großen und ganzen allgemein gehalten. In ruhiger abgeklärter Form, jede Überspitzung vermeidend, gibt der Verfasser die erbetene Anleitung. Die Schrift ist besonders dadurch interessant, daß sie aus der Feder des Kenners einen Einblick gewährt in die Anfänge der mönchischen Entwicklung. Sie macht uns besonders mit deren Schattenseiten bekannt, die natürlich waren, ehe eine straffe kirchliche Gesetzgebung die neue Bewegung in die richtigen Schranken verwies. Bemerkenswert ist, daß Hieronymus im Gemeinschaftsleben die Norm erblickt. Erst der dort Gereifte soll sich dem Einsiedlerberufe widmen. Leider enthält das kleine Werk einen unangenehmen Schönheitsfleck dort, wo es sich in harten Worten über Rufin äußert. Sie würden um so unangenehmer wirken, falls feststände, daß Rufin damals schon zu den Toten zählte.
Daß der Brief gut gewirkt hat, ergibt sich daraus, daß der Empfänger des Briefes allem Anscheine nach personengleich ist mit dem späteren Bischof Rusticus von Narbonne (427—461). 3
Die Datierung stößt auf einige Schwierigkeit. Der Brief muß nach 406 geschrieben sein, in welchem Jahre Gallien von den aus dem Osten kommenden Horden verwüstet wurde. Daß er dieses Ereignis ins Auge faßt, ergibt eine Schilderung an anderer Stelle, an der er genau wie hier der rettenden Aktion des Bischofs Exsuperius gedenkt. 4 Wenn Vallarsi und Cavallera 5 mit Recht aus der Stelle über Rufin folgern könnten, daß dieser zur Zeit der Niederschrift bereits tot war, 6 dann S. 216 wäre der Brief frühestens 410/11 anzusetzen. Allein mit Grützmacher7 möchte ich diesen Schluß nicht als zwingend ansehen, zumal sicherlich im Zusammenhang mit den Ereignissen in Gallien auch der Fall Roms erwähnt wäre. Wir müssen uns daher bescheiden und den Brief in die Zeit zwischen 406—410 verlegen.
Rusticus muß dort beheimatet sein, wo Bischof Proculus residierte; denn nur dann kann dieser in täglicher Belehrung sein Seelenführer sein (vgl. ep. 125, 20). Ein Bischof Proculus aus Marseille nahm unter Papst Damasus 381 an der Synode zu Aquileja teil. Als sich Rusticus dem Mönchsstande widmete, war Proculus noch im Amte. Er begegnet uns im Kampfe gegen den pelagianischen Mönch Leporius und verteidigte unter Papst Zosimus (417/18) ganz energisch die Rechte seiner Kirche gegen Patroklus von Arles. Von verschiedener Seite (z.B. Vallarsi — M PL XXII 1072; Leipelt, Ausgewählte Schriften des hl. Hieronymus, Kempten 1872, I 516) wird des Rusticus Wohnsitz nach Toulouse verlegt, weil Hieronymus ihn auf den Bischof dieser Stadt, den hl. Exsuperius, verweist mit den Worten: „Huius e vicino sectare vestigia“ (ep. 125, 20). Allein „e vicino“ ist hier nicht örtlich zu fassen, sondern bedeutet „in ähnlicher Weise“, Auch könnte, falls Rusticus in Toulouse wohnte, Hieronymus nicht schreiben „sanctus Exsuperius, episcopus Tolosae“ (ebd.). ↩
Ep. 52 (s. S. 122 ff.). ↩
Vgl. Leo d. Gr., ep. 167 ad Rust. Narb. episc. (M PL LIV 1197 ff.). ↩
Ep. 123, 15 ad Geruchiam (s. S. 210). ↩
Zu Vallarsi s. M PL XXII 1072; Cav. I 1320. ↩
Ep. 125, 18. ↩
Gr. I 88 f. (vgl. auch Pr. 77 f.). ↩
