1.
Unter allen Abhandlungen, welche ich seit meiner Jugend bis auf den heutigen Tag geschrieben oder diktiert habe, ist mir keine so schwer gefallen wie diese Schrift. Ich schreibe nämlich an die Christo geweihte Jungfrau Demetrias, die durch Herkunft und Reichtum die erste Stelle im römischen Reiche einnimmt. Schildere ich alles so, wie es ihrer Tugend entspricht, dann wird man mich einen Schmeichler nennen. Unterschlage ich das eine oder andere, was unglaubhaft scheinen möchte, dann beeinträchtigt meine Zurückhaltung die ihr gebührende Anerkennung. Was soll ich nun tun? Auf der einen Seite reicht mein Können nicht hin, auf der anderen wage ich es nicht, die an mich gerichtete Bitte abzulehnen. Das Ansehen ihrer Mutter und Großmutter, zweier erlauchter Frauen, ihre Treue im Glauben und ihre inständigen Bitten lassen kein Ausweichen zu. S. 241 Schließlich verlangen sie ja auch nichts Neues und Außergewöhnliches von mir, da es um einen Stoff geht, mit dem ich mich schon häufig beschäftigt habe. Sie wollen nur, daß auch, soweit es in meinen Kräften steht, mein Urteil nicht fehle beim Entwurf eines Tugendspiegels für eine Jungfrau, an der man nach den Worten eines berühmten Redners eigentlich mehr das zu loben hat, was sie einmal werden soll, als was sie heute ist. 1 Trotzdem verdient es alles Lob, daß sie sich schon in ihren jungen Jahren durch ihren Eifer im Glauben auszeichnet und dort angefangen hat, wo andere, die ein vollkommenes Tugendleben führten, aufhörten.
Cicero, De re publ. incerta fragmenta 5 (Teubner 136). ↩
