11.
Aber ich verlange von Dir kein übertriebenes Fasten und keine maßlose Enthaltsamkeit in der Nahrung, wie sie leicht zarte Körper gefährden kann, so daß sie zu kränkeln anfangen, ehe sie den Grundstein zu ihrer frommen Lebensweise gelegt haben. Auch die Philosophen vertreten den Grundsatz, daß die goldene Mittelstraße die Tugend ausmacht, während die Übertreibung vom Übel ist. 1 Deshalb sagt auch einer von den sieben S. 260 Weisen: „Nur nichts übertreiben.“ 2 Dieses Wort ist so berühmt geworden, daß es einer unserer Lustspieldichter in seinen Versen verwandt hat. 3 Du sollst so fasten, daß Du nicht vor Schwäche zittern mußt oder nur mit Mühe atmen kannst, so daß Dich Deine Gefährtinnen auf den Händen tragen oder an den Armen schleppen müssen. Vielmehr sollst Du die Eßlust in dem Maße abtöten, daß Du weder an der üblichen Lesung der Psalmen noch an den gewohnten Nachtwachen etwas zu kürzen brauchst. Das Fasten an sich ist noch nicht die vollendete Tugend, vielmehr ist es die Grundlage der übrigen Tugenden. Dasselbe gilt von der Heiligung und Züchtigkeit, ohne die niemand Gott schauen kann. 4 Sie sind wohl eine Stufe zum Aufstieg, aber für sich allein werden sie niemals die Krone einer Jungfrau ausmachen. Lesen wir das Evangelium von den klugen und törichten Jungfrauen! Die einen treten ein in das Gemach des Bräutigams, die anderen, denen es am Öl der guten Werke fehlt, werden mit ihren erloschenen Lampen ausgeschlossen. 5 Die Theorie des Fastens ist ein weites Gebiet, auf dem ich mich schon oft versucht habe und über das von vielen ganze Bücher geschrieben wurden, auf die ich Dich verweisen will. Aus ihnen kannst Du lernen, was die Enthaltsamkeit Gutes an sich hat, die Sättigung hingegen Schlechtes.
Im Texte steht: „Μεσότητας ἀρετὰς, ὑπερβολὰς κακίας εἶναι“ (vgl. hierzu Aristoteles, Eth. Nicom. II 6 [1106b 27, 34 f.]]; 7 [1107b 5 f. 22 f.]; 9 [1109a 20 ff.]; IV 7 [1127a 16 f.]; V 5 [1134a 8 f.]; Magna mor. I 9 [1186b 10 f.] u. ö.). ↩
Der Ausspruch „μηδὲν ἄγαν“ wird Solon, Chilon von Lakedämon und auch anderen zugeschrieben. Nach Platon (Hipparch 228 E) war er als Inschrift am Tempel zu Delphi angebracht. ↩
Terentius, Andria 61; Heautontimorumenos 519. ↩
Hebr. 12, 14. ↩
Matth. 25, 1 ff. ↩
