10.
1. „Wenn du vollkommen werden willst“.1 Er war also noch nicht vollkommen; denn nichts ist vollkommener als das Vollkommene.2 Und in göttlicher Weise zeigte das Wort „wenn du willst“,3 daß die Seele, die mit ihn sprach, freien Willen4 hatte. Denn der Mensch hatte die Möglichkeit zu wählen, da er frei war; Gott aber hatte die Möglichkeit zu geben, da er der Herr ist. 2. Er gibt aber denen, die die Gabe wünschen und sich eifrig um sie bemühen und um sie bitten, damit so die Erlösung ihr Eigentum werde. Denn Gott zwingt nicht, Gewalt ist ja Gott verhaßt, sondern er gibt denen, die suchen, und schenkt denen, die bitten, und öffnet denen, die anklopfen.5 3. Wenn du also willst, wenn du wirklich willst und dich nicht selbst täuschest, so erwirb dir das, was dir noch fehlt! „Eines fehlt dir“,6 das eine, das nur ich geben kann, das Gute, das schon über das Gesetz erhaben ist, das das Gesetz nicht geben kann, wozu das Gesetz nicht fähig ist, das der einzigartige Besitz derer ist, die das Leben haben. 4. Offenbar konnte S. 239 der, der alle Gebote des Gesetzes „von Jugend auf“7 erfüllt und sich übermäßig gebrüstet hatte, dieses eine, nämlich das, was allein dem Heiland vorbehalten ist, zu allem andern nicht hinzufügen, um so das ewige Leben zu erlangen, nach dem er sich sehnte; vielmehr ging er traurig fort, betrübt über die Forderung, deren Erfüllung die Voraussetzung des Lebens war, um das er flehte. 5. Denn er wollte nicht wirklich das Leben, wie er sagte, sondern umhüllte sich nur mit dem Schein einer guten Absicht und konnte sich zwar um vieles bemühen, aber er hatte weder die Fähigkeit noch den Willen noch die Kraft, das eine, das Werk des Lebens, zu vollbringen. 6. Es war ähnlich wie bei Martha: Als sie sich viele Mühe machte und geschäftig hin und her eilte und sich von den Sorgen für die Bewirtung beunruhigen ließ, ihrer Schwester aber Vorwürfe machte, weil sie, ohne sich um die Bewirtung zu kümmern, zu den Füßen des Heilandes saß und sich die Zeit nahm, von ihm zu lernen, da sagte der Heiland zu ihr: „Du machst dir viel Unruhe; Maria aber hat das gute Teil erwählt, und es soll ihr nicht genommen werden.“8 7. So befahl er auch diesem, seine Vielgeschäftigkeit aufzugeben, sich nur um eines zu kümmern und dabei zu bleiben,9 nämlich bei der Gnade dessen, der ewiges Leben gewährt.
Mt 19,21; vgl. Mk 10,21 , oben § 4,6. ↩
Bei dem Begriff „vollkommen“ gibt es keine Möglichkeit der Steigerung; also ist aus dem Satzteil „wenn du vollkommen werden willst“ zu entnehmen, daß der Jüngling noch nicht vollkommen war. ↩
Mt 19,21; vgl. Mk 10,21 ↩
Clemens legt großen Wert auf die Lehre von dem freien Willen des Menschen, durch den er für seine Taten verantwortlich ist; vgl. z.B. Protr. 99,4; Strom. I 83. ↩
Vgl. Mt 7,7; Lk 11,9; Sacr. Parall. 286 Holl. ↩
Lk 18,22; vgl. Mk 10,21. Es ist zu beachten, daß sich Clemens bei der Auslegung der einzelnen Verse oft nicht an den Wortlaut des Markusevangeliums, dessen Text er der ganzen Abhandlung vorausgeschickt hat, sondern an einen der Paralleltexte anschließt. ↩
Vgl. Mk 10,20. ↩
Vgl. Lk 10,38-42. ↩
Das griechische Wort bedeutet eigentlich „dabei zu sitzen“, so wie Maria beim Herrn saß. ↩
