19.
Wir faßten nun auf die Nachricht von ihrem guten Zustand frohen Mut und machten uns an den Genuß des Vorgesetzten. Mannigfaltiges fand sich da und das Zubereitete bestand aus lauter herzerfreuenden Dingen, indem die Fürsorge der Hohen sich auch auf solche Dinge erstreckte. Als wir aber wieder vor ihren Augen standen, ― denn sie ließ uns die freie Zeit nicht für uns verbringen ― nahm sie die Erinnerung ihrer Erlebnisse seit der Kindheit auf und ging alles wie in einem Buch der Reihe nach genau durch, was sie vom Leben der Eltern im Gedächtnis hatte, wie auch die Ereignisse vor meiner Geburt und das spätere Leben. Der Zweck ihrer Erzählung war aber die Danksagung gegen Gott. Sie legte nämlich dar, wie dem Leben der Eltern bei den Zeitgenossen nicht so sehr der Reichtum Glanz und Ansehen gab, daß vielmehr dasselbe durch göttliche Güte gefördert wurde, indem den Eltern des S. 354 Vaters wegen ihres Bekenntnisses für Christus das Vermögen eingezogen wurde, während der Großvater mütterlicherseits durch königliche Ungnade aus dem Leben geschafft wurde und all sein Eigentum auf andere Herren überging; gleichwohl sei durch den Glanz ihr Besitz so gewachsen, daß es damals niemanden gab, der einen größeren Namen hatte, als sie. Und obwohl ihr Vermögen nach der Zahl der Kinder wieder neunfach geteilt wurde, sei jedem unter dem Segen das Erbteil so vermehrt worden, daß das Vermögen jedes einzelnen der Kinder den Wohlstand der Eltern übertraf. Ihr selbst sei von dem, was ihr nach dem gleichen Anteil der Geschwister zuerkannt wurde, nichts geblieben, sondern alles sei durch die Hände des Priesters nach dem göttlichen Gebote verwendet worden. Ihr Leben aber sei unter der göttlichen Leitung derart gewesen, daß sie niemals aufgehört habe, mit ihren Händen nach dem Gebote zu arbeiten, noch je nach einem Menschen sich umgesehen habe oder durch irgendwelche menschliche Wohltat sich zu ihrem rechtschaffenen Lebenswandel habe bewegen lassen. Vielmehr habe sie sich weder von den Bittenden abgewendet noch die Gebenden aufgesucht, indem Gott unbemerkt ihre kleinen Werke durch seinen Segen wie Samenkörner zu reichlicher Frucht vermehrte. Als ich aber von den eigenen Leiden, in denen ich mich befunden, erzählte, indem zuerst Kaiser Valens mich um des Glaubens willen verbannte und dann die Verwirrungen in den Kirchen uns zu Kampf und Mühe aufriefen, da sprach die Hohe: „Wirst du nicht davon abstehen, den göttlichen Wohltaten gegenüber unerkenntlich zu sein? Wirst du nicht der Undankbarkeit deiner Seele wehren? Wirst du nicht dein Geschick dem deiner Eltern gegenüberhalten? In dieser Welt rühmen wir uns ja vor allem dessen, daß wir dafür angesehen werden, von edler Geburt zu sein und von edlem Geschlechte abzustammen. Als Mann von hoher Bildung, sprach sie, galt doch damals der Vater viel, aber sein Ruhm beschränkte sich auf die einheimischen Gerichtshöfe. Und als er später die übrigen1 durch seine Redekunst S. 355 übertraf, drang sein Ruhm auch nicht über Pontus hinaus, vielmehr genügte es ihm, in der Heimat geachtet zu sein. Du aber, sprach sie, wirst in Städten, Gemeinden und bei Völkern genannt. Dich schicken und rufen die Kirchen, mit ihnen zu kämpfen und Ordnung zu schaffen. Und du willst die Gnade nicht sehen und die Ursache so großer Vorzüge nicht erkennen, daß die Gebete der Eltern dich in die Höhe bringen, obwohl du von Hause aus keine oder nur eine geringe Ausrüstung dazu hast?“
Text nach Morel: τῶν λοιπῶν [tōn loipōn]. ↩
