6.
Das Mädchen kannte das Vorhaben des Vaters wohl. Aber nachdem durch den Tod des Jünglings das, was für sie bestimmt war, zunichte geworden, nannte sie die Entscheidung des Vaters Ehe, wie wenn die Entscheidung zur Wirklichkeit geworden wäre, und beschloß, von nun ab für sich zu bleiben. Und dieser Entschluß war stärker als ihr Alter. Denn da ihre Eltern ihr oftmals Vorschläge wegen der Hochzeit machten, weil es viele gab, die um sie wegen ihrer gefeierten Schönheit freien wollten, erklärte sie es für widersinnig und unerlaubt, nicht den ihr einmal vom Vater bestimmten Gatten zu lieben, sondern genötigt zu werden, sich nach einem weiteren umzusehen, S. 341 während es doch in der Natur nur eine Ehe gäbe, wie auch nur eine Geburt und einen Tod. Und sie bestand darauf, daß derjenige, der ihr nach dem Willen der Eltern anverlobt war, nicht gestorben sei, sondern ihrer Überzeugung nach wegen der Hoffnung auf die Auferstehung bei Gott lebe und so bloß in einem fremden Lande weile, aber nicht tot sei. Es sei unziemlich, dem abwesenden Bräutigam nicht die Treue zu bewahren. Mit solchen Reden wies sie die zurück, welche sie zu überreden versuchten, und sie sah ein sicheres Schutzmittel für ihren edlen Entschluß darin, daß sie sich niemals von ihrer Mutter auch nur für kurze Zeit trennte. Daher sagte oftmals die Mutter zu ihr, die übrigen Kinder hätte sie eine bestimmte Zeit lang im Schoß getragen, sie aber trage sie gewissermaßen allzeit und überall1 mit sich herum. Aber dieses Zusammenleben mit der Tochter war für die Mutter nicht mühsam noch auch ohne Vorteil, denn die Pflege der Tochter ersetzte ihr viele Dienerinnen und zwischen beiden fand ein guter, sich gegenseitig ergänzender Austausch statt. Die eine pflegte nämlich die Seele des Mädchens, die andere aber den Leib der Mutter, indem sie nicht bloß sonst alle erforderlichen Dienste leistete, sondern auch damit, daß sie oftmals der Mutter eigenhändig das Brot bereitete. Das betrachtete sie jedoch nicht als ihre Hauptbeschäftigung. Vielmehr hielt sie erst dann, wenn sie ihre Hände durch religiöse Dinge gesalbt hatte, für passend, den Geschäften des Lebens nachzugehen, und verschaffte der Mutter mit ihrer häuslichen Arbeit reichlichen Unterhalt. Und nicht bloß das, sondern überhaupt alle auf ihr ruhende Sorge teilte sie zugleich mit ihr; denn sie war Mutter von vier Söhnen und fünf Töchtern und mußte an drei Fürsten Abgaben entrichten, weil ihr Besitztum unter so vielen Völkerschaften zerstreut lag.
Text nach Morel: ἐκείνην δὲ διαπαντὸς φέρει πάντοτε [ekeinēn de diapantos pherei pantote]. ↩
