12.
Du schreibst an mich in Deinem Briefe: „Nicht von mir sollst Du lernen, wie das Wort des Apostels: Ich bin wie ein Jude geworden, um die Juden zu gewinnen, 1 zu verstehen sei samt dem anschließenden Text, der mehr dem Gefühl des Mitleids als der Lüge und Heuchelei entspringt. Wer nämlich einen Kranken pflegt, wird sozusagen selbst ein Kranker. Nicht als ob er Fieber vortäuscht. Aber aus einem Gefühle von Mitleid heraus überlegt er, wie er bedient sein möchte, falls er an der Stelle des Kranken läge. Ohne Zweifel war Paulus Jude. Christ geworden verzichtete er nicht auf die heiligen Gebräuche der Juden, die jenes Volk seinem Wesen entsprechend zu einer Zeit, die es erheischte, empfangen hatte. Deshalb hielt er sie auch bei, als er bereits Christi Apostel geworden, um zu zeigen, daß damit keine Gefahr für diejenigen verbunden sei, welche das Gesetz nach ererbter Vätersitte auch nach ihrer Bekehrung zum Christentum beobachten wollten. Voraussetzung war freilich, daß sie nicht auf diese Gebräuche ihre Heilshoffnung gründeten, sondern auf Jesus Christus, der als das in diesen Gebräuchen vorgebildete Heil gekommen war.“ 2 Der langen Rede kurzer Sinn ist also folgender: Petrus hat nicht darin geirrt, daß er meinte, das Gesetz sei von den Judenchristen zu beobachten, sondern er sei von der rechten Linie abgewichen, insofern er die Heiden zwingen wollte, sich der jüdischen Lebensweise anzupassen. Es handelte S. b447 sich allerdings um keinen Zwang auf Grund obrigkeitlicher Anweisung, sondern er tat sich mehr durch das Beispiel kund. Des Paulus Worte hätten damit auch nicht im Gegensatze zu seinem eigenen Handeln gestanden. Er hätte nur den Petrus tadeln wollen, weil er versuchte, die Heidenchristen zu beeinflussen, nach jüdischer Art zu leben.
