35.
1. Daher darf man auch nicht behaupten, daß, was gerecht ist, sich nur dadurch zeige, daß es festgesetzt wird; vielmehr muß man erkennen, daß durch das Gebot nur die von der Schöpfung herrührende Anlage zum Guten angeregt wird, indem die Seele durch den Unterricht zu dem Entschluß erzogen wird, das Edelste zu wählen.1
2. Wie wir es aber für möglich erklären, daß man ohne Kenntnis der Schreibkunst gläubig sein kann,2 so sind wir darüber einig, daß man die im Glauben enthaltenen Lehren unmöglich verstehen kann, ohne zu lernen. Denn die richtigen Lehren anzunehmen und die anderen zu verwerfen, dazu befähigt nicht einfach der Glaube, sondern nur der auf Wissen beruhende Glaube.
3. Und wenn Unwissenheit die Folge davon ist, daß man nicht unterrichtet wurde und nichts lernte,3 so gewährt der Unterricht die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge.4
4. Wie man aber bei Armut an Lebensunterhalt ein rechtschaffenes Leben führen kann, so ist es auch bei Überfluß möglich, und nach unserer Ansicht kann man leichter und zugleich schneller mit Hilfe der Vorbildung die Tugend erjagen, die auch ohne sie nicht unerreichbar ist, freilich auch dann nur für die, die etwas gelernt haben und „geübte Sinne“5 besitzen.
5. „Denn der Haß“, sagt Salomon, „erregt Streit, dagegen die Wege des Lebens wahrt die Bildung“6 so daß wir nicht getäuscht, so daß wir nicht betrogen werden von denen, die zum Schaden ihrer Hörer Arglist ersonnen haben.
6. „Eine Bildung aber, die nicht mit zurechtweisender Widerlegung verbunden ist, geht in die Irre“, heißt es7 und man muß sich mit der Gattung (der Rhetorik), die das Widerlegen lehrt, beschäftigen,8 damit man die trügerischen Meinungen der Sophisten abweisen kann.
34,2-35,1 Chrysipp Fr. 225 v. Arnim; vgl. auch Cicero, De leg. I 10,28 f.; 16,45. ↩
Vgl. Paid. III 78,2. ↩
Vg. Epiktetos, Arrian. dissert. I 11,14 p. 40,21 Schenkl. ↩
Zur Definition des Begriffes Weisheit vgl. Paid. II 25,3 mit Anm. ↩
Vgl. Hebr 5,14. ↩
Spr 10,12a.17a. ↩
Spr 10,17b. ↩
Statt (xxx) ist (xxx) zu lesen. ↩
