3.
Wer ist nun diese Sunamitin, Frau und Jungfrau zugleich? Wer ist dieses Mädchen voller Hitze, das den S. 126 frierenden Greis erwärmen konnte, dabei so heilig, daß sie in ihm, als er warm wurde, keine böse Lust aufkommen ließ? 1 Der weise Salomon soll uns über die Freuden seines Vaters, der Friedensmann über die Zärtlichkeiten des einstigen Kriegers Aufschluß geben. Er schreibt: „Erwirb dir Weisheit, erwirb dir Klugheit! Vergiß nicht meines Mundes Worte, und wende dich nicht von ihnen ab! Laß die Weisheit nicht im Stiche, dann wird sie auch dir treu bleiben. Liebe sie, und sie wird dir dienen. Erwirb dir Weisheit, das nämlich ist der Weisheit Anfang, und mache die Klugheit voll und ganz zu deinem Eigentum! Schätze sie hoch, und dich wird sie erhöhen. Ehre sie, und sie wird dich umarmen. Dein Haupt wird sie mit einer Krone voll Anmut schmücken, mit prächtigem Kranze dich zieren.“ 2 Fast alle körperlichen Fähigkeiten siechen mit dem Greisenalter dahin. Nur die Weisheit allein nimmt zu, alles andere nimmt ab. Alles läßt in einem verbrauchten Körper nach: das Fasten, die Nachtwachen, das Almosen, das Schlafen auf hartem Boden, die allseitige Geschäftigkeit, die gastliche Aufnahme der Fremden, der Schutz der Armen, die Ausdauer beim Gebete, der Besuch der Kranken, die körperliche Arbeit, durch die man die Mittel zum Wohltun schafft, kurzum alles, was mit des Körpers Hilfe ausgeführt wird. Damit sage ich nicht, daß bei Jünglingen und Leuten in den besten Jahren, besonders wenn sie durch Arbeit, angestrengtes Studium, Heiligkeit des Lebens und eifrigen Gebetsverkehr mit dem Herrn Jesus die Wahrheit sich erworben haben, diese Weisheit, die ja auch bei sehr vielen Alten mit den Jahren immer welker wird, sozusagen einfriert. Ich will nur sagen, daß die Jugend zahlreiche Kämpfe mit dem eigenen Fleische zu bestehen hat, daß unter den Lockungen des Lasters und den Regungen des Fleisches die Weisheit zum Ersticken kommt, so wie ein Feuer im grünen Holze erstickt und seinen hellen Schein nicht S. 127 entfalten kann. Aber das Alter derjenigen, welche sich in ihrer Jugend in ehrenhaften Fertigkeiten geschult und im Gesetze des Herrn geforscht haben bei Tag und bei Nacht, 3 nimmt zu an Gelehrsamkeit, an Lebenserfahrung und von Tag zu Tag an Weisheit, und es erntet die süßen Früchte der Anstrengungen vergangener Zeiten. So berichtet man von einem weisen Griechen, er habe im Alter von 107 Jahren im Angesichte des Todes sich dahin geäußert, daß es ihm leid täte, gerade jetzt, wo er anfinge, weise zu werden, aus dem Leben scheiden zu müssen. 4 Plato ist im Alter von 81 Jahren, während er am Schreiben war, gestorben. 5 Isokrates verschied 99 Jahre alt in den Sielen, bis dahin lehrend und schriftstellernd. 6 Gar nicht reden will ich von anderen Philosophen wie Pythagoras, 7 Demokrit, 8 Xenokrates, 9 Zeno 10 und Cleanthes, 11 die noch hochbetagt durch das Studium der Weisheit sich einen Namen machten. Unter den Dichtern haben Homer, Hesiod, 12 Simonides 13 und Stesichorus, 14 die alle alt geworden sind, unmittelbar vor ihrem Tode bei ihrem Schwanengesang schöneres S. 128 Können entfaltet, als man es bislang bei ihnen gewohnt war. 15 Des Sophokles Söhne beschuldigten ihren Vater, daß er den Verstand verloren habe, teils wegen seines hohen Alters, teils wegen Vernachlässigung seiner häuslichen Pflichten. Da trug er den Richtern sein Trauerspiel Ödipus, das er vor kurzem verfaßt hatte, vor und legte so trotz vorgeschrittenen Alters einen solch überzeugenden Beweis seiner geistigen Frische ab, daß er vor dem strengen Gerichtshofe Beifall wie im Theater erntete. 16 Ist es da ein Wunder, wenn Cato Censorius, der größte Redner, den Rom gesehen hat, sich nicht scheute, in seinen alten Tagen voller Zuversicht das Studium der griechischen Sprache in Angriff zu nehmen? 17 Homer berichtet vom alten abständigen Nestor, daß aus seinem Munde die Rede süßer als Honig floß. 18 Auch der geheimnisvolle Name Abisag deutet die größere Weisheit des Greisenalters an. Denn etymologisch gedeutet, besagt er „mein überflüssiger Vater“ oder „das Gebrüll meines Vaters“. 19 Das Wort „überflüssig“ ist zweideutig. Hier aber ist es im günstigen Sinne aufzufassen und deutet an, daß die Weisheit bei den Greisen vollkommener, überfließend und reichlicher sich bemerkbar macht. In der anderen Bedeutung heißt überflüssig soviel wie unnötig. — „Sag“ wird in der Bedeutung Gebrüll verwandt, 20 um damit das Rauschen der Meeresbrandung und den Schall des durch das Meer verursachten Getöses zu bezeichnen. Hieraus ist zu ersehen, daß in den Greisen weit über menschliche Stimmkraft hinaus das Wort Gottes einem mächtigen Donner gleich wohnt. Weiterhin bedeutet das Wort Sunamitin in unserer Sprache S. 129 „scharlachfarben“. 21 Daraus ergibt sich, daß die Weisheit Glut entfacht und den Leser der heiligen Schriften mit heiligem Feuer erfüllt. Denn wenn dieses Wort auch geheimnisvoll auf das Blut des Herrn hinweist, so deutet es nicht minder den Feuereifer an, welchen die Weisheit entfacht. Darum band auch jene Wehmutter in der Genesis ein scharlachfarbenes Band um des Phares Hand, der den Namen Teiler — dies bedeutet nämlich Phares — erhielt, weil er die Scheidewand trennte, die vorher zwei Volker gegeneinander absonderte. 22 Und die Buhlerin Rahab hat als Vorbild der Kirche jene rote Schnur, die geheimnisvoll das Blut Christi versinnbildet, herausgehängt, um ihr Haus beim Untergange Jerichos zu retten. 23 Die Hl. Schrift spricht auch an einer anderen Stelle von den heiligen Männern: „Dies sind die Kinäer die aus der Hitze des Hauses Rechab kamen.“ 24 Und unser Herr verkündet im Evangelium: „Ich bin gekommen Feuer auf die Erde zu schicken, und ich will, daß es brenne.“ 25 Dieses Feuer aber wuchs zur Glut an im Herzen der Jünger und drängte sie zu den Worten: „Brannte nicht unser Herz in uns, als er auf dem Wege mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloß?“ 26
3 Kön. 1, 4. ↩
Sprichw. 4, 5 ff. ↩
Ps. 1, 2. ↩
Der Peripatetiker Theophrastos, Schüler Piatos und des Aristoteles und dessen Freund. Vgl. Cicero, Tusc. III 28, 69. Diogenes Laertius V 2, 11. Er starb 288/86 v. Chr. im Alter von 85 (nicht 107) Jahren ↩
Cicero, Cato maior 5, 13. ↩
Athenischer Redner (436—338 v. Chr.); vgl. Cicero, Cato maior 5, 13. ↩
Gestorben 497/96 v. Chr. im Alter von 75 Jahren. Seine Philosophie machte die Zahl zum Urgrund aller Dinge. ↩
Demokrit aus Abdera, einer der Mitbegründer der materialistischen Atomistik, starb 370 v. Chr., ungefähr 100 Jahre alt. ↩
Xenokrates aus Chalcedon, Philosoph der alten Akademie, starb 314 v. Chr. im Alter von 82 Jahren. ↩
Zenon aus Kition, der Begründer der Stoa, starb als Greis von 72 Jahren 262 v. Chr. ↩
Zenons Nachfolger Cleanthes aus Assos starb 232/31 99 jährig. ↩
Griechischer Epiker aus Askra in Böotien (nachhomerisch). ↩
Griechischer Lyriker aus Keos (556—468 v. Chr.). ↩
Griechischer Lyriker des 6. Jahrh. v. Chr. aus Himera in Sizilien (oder Lokri in Unteritalien?). ↩
Cicero, Cato maior 7, 23. ↩
Ebd. 7, 22. ↩
Ebd. 8, 26. ↩
Homer. Il. I 247 ff. ↩
Hieronymus leitet אֲבִישַׁג von שׁוּק = überfließen oder שָׁאַג = brüllen ab. In Wirklichkeit dürfte der Name mit שָׁגַג oder שׁגָח „irren“ zusammenhängen. ↩
שׁאָגָח = Gebrüll. ↩
שׁוּנַמִּית abgeleitet von שָׁנִי = Karmesinfarbe. ↩
Gen. 38, 27 ff. Gemeint sind Juden und Heiden, wie Hieronymus in seinen Kommentaren wiederholt darlegt. Vgl. comm. in Mich. zu 2, 11 f.; in ep. ad Ephes. zu 2, 15 ff.; in ep. ad Gal. zu 3, 15 ff. (M PL XXV 1233 f.; 390 f.). ↩
Jos. 2, 18. 21. ↩
1 Chron. 2, 55. Der Vers lautet: Dies sind die Kinäer, die von Chammath, dem Vater des Hauses Rechab, abstammen. Hieronymus faßt irrtümlich den Eigennamen חַמַּת als stat. constr. von חַמָּה = Glut, Hitze auf. ↩
Luk. 12, 49. ↩
Ebd. 24, 32. ↩
