15.
Zu Deinen Amtspflichten gehört es, die Kranken zu besuchen, die Häuser und Kinder der Matronen kennenzulernen, in die Geheimnisse hochstehender Männer eingeweiht zu werden. Es ist Deine Pflicht, Deinen Augen keinen zu freien Blick und Deiner Zunge kein zu freies Wort zu erlauben. Sprich nicht über die Schönheit der Frauen! Keine Familie soll durch Dich S. 146 erfahren, was in der anderen vorgeht. Hippokrates 1 ließ seine Schüler schwören und verlangte von ihnen, ehe er sie zum Unterrichte zuließ, seiner Lehre blindlings zu folgen. Eidlich verpflichtete er sie zum Stillschweigen und schrieb ihnen Sprache, Gang, Haltung und Sitte vor. Um wieviel schwerer lastet auf uns, denen die Sorge um die Seelen anvertraut ist, die Pflicht, die Häuser aller Christen zu lieben wie die eigenen! Sie sollen uns kennenlernen als Tröster in ihren Nöten, weniger als Gäste bei glücklichen Ereignissen. Allzu leicht setzt sich der Priester der Geringschätzung aus, der, oftmals zu Tisch geladen, es niemals versteht abzusagen.
Berühmter griechischer Arzt aus Kos (460 bis ca. 356 [ca. 377?] v. Chr.). Vgl. Kuehn. Magni Hippocratis opera I, Leipzig 1825, XI. ↩
