5.
Der Kleriker, welcher der Kirche Christi dient, soll sich zuerst über die Bedeutung des Namens, den er trägt, klar sein und sich bestreben, das zu sein, was dieser Name besagt. Das griechische Wort κλῆρος bedeutet lateinisch sors (Los). Man spricht deshalb von Klerikern, weil der Herr sie durch das Los bestimmt hat, oder weil der Herr selbst das Los, d.h. der Anteil der Kleriker ist. Wer aber ein Teil des Herrn ist oder den Herrn zu seinem Anteile gemacht hat, muß sich so aufführen, S. 131 daß er selbst den Herrn besitzt und von dem Herrn in Besitz genommen wird. Wer den Herrn sein eigen nennt und mit dem Propheten spricht: „Der Herr ist mein Anteil“, 1 darf außer dem Herrn nichts sein eigen nennen. Wenn er irgend etwas anderes außer dem Herrn besitzt, dann wird der Herr nicht mehr sein Anteil sein können. Wenn jemand z.B. Gold, Silber, Liegenschaften und allerhand kostbaren Hausrat liebt, dann wird der Herr sich nicht herablassen, zusammen mit diesen Anteilen sein Anteil zu sein. Wenn ich aber ein Anteil des Herrn und das Los seines Erbes sein will, 2 dann habe ich keinen Anspruch auf Erbland unter den anderen Stämmen, 3 sondern wie der Priester und Levit lebe ich vom Zehnten. Als Diener des Altares werde ich durch die Gabe des Altares unterhalten. Mit dem nötigen Lebensunterhalt und der Kleidung werde ich mich zufrieden geben 4 und in Armut dem kahlen Kreuze folgen. Deshalb beschwöre und ermahne ich Dich immer wieder, 5 stelle das geistliche Amt nicht auf gleiche Stufe mit Deiner früheren militärischen Tätigkeit, d.h. strebe im Kriegsdienste Christi nicht nach Reichtümern! Nie sollst Du mehr besitzen als bei Deinem Eintritt in den geistlichen Stand, so daß man von Dir mit der Schrift sagen kann: „Ihr Erbe wird ihnen keinen Nutzen bringen.“ 6 Halte nicht Arme und Fremde von Deinem einfachen Tische fern, laß Christus in ihnen Dein Gast sein! Einen Geistlichen, der auf Erwerb ausgeht und aus der Armut zum Reichtum, aus einfachen Verhältnissen zu Ehrenstellen gelangt, den fliehe wie die Pest! Es verderben bekanntlich böse Reden gute Sitten. 7 Du verachtest das Gold, er liebt es; Du trittst den Reichtum mit Füßen, er jagt ihm nach; Du erbaust Dich am Stillschweigen, an der Sanftmut und Eingezogenheit, er hat Freude am Geschwätz, an der Wichtigtuerei, an den S. 132 öffentlichen Straßen und Plätzen und an den Buden der Quacksalber. Wie ist eine Freundschaft da denkbar, wo die sittlichen Auffassungen so weit auseinandergehen? — Frauen sollen Deine einfache Wohnung nur selten oder noch besser niemals betreten. Alle Christus geweihten Jungfrauen und Mädchen sollen Dir genau so lieb wie unbekannt sein. Wohne mit ihnen nicht unter einem Dache und baue nicht darauf, daß Du bisher die Keuschheit bewahrt hast. Du kannst nicht heiliger sein als David und weiser als Salomon. Vergiß nie, daß eine Frau den Herrn des Paradieses aus seinem Wohnsitz vertrieben hat. 8 Wenn Du krank bist, dann soll Dich einer Deiner frommen Mitbrüder pflegen, Deine Schwester oder Deine Mutter oder eine Frau, die allgemein im Rufe erprobter Tugend steht. Hast Du keine Verwandten dieser Art und steht Dir auch keine tugendhafte Frau zur Verfügung, dann denke an die vielen alten Mütterchen, welche die Kirche unterhält. Eine von ihnen kann Dir zu Diensten sein. Der Lohn, den Du ihr für die Pflege zahlst, trägt dann in sich obendrein das Verdienst des Almosens. Ich kenne manche, die körperlich genasen, aber an der Seele krank wurden. Nicht ohne Gefahr ist der Dienst einer Frau, in deren Antlitz Du oft schaust. Mußt Du beruflich eine Witwe oder eine Jungfrau besuchen, dann betritt nie allein das Haus! Wähle Dir nur solche Begleiter, mit denen Du umgehen kannst, ohne selbst in schlechten Ruf zu geraten. Geht mit Dir ein Lektor, ein Akolyth oder ein Psalmensänger, dann soll er sich auszeichnen durch Tugend, weniger durch elegante Kleidung. Er soll seine Haare nicht mit dem Brenneisen kräuseln. Die ganze Haltung soll die Reinheit der Seele widerspiegeln. Nie sollst Du mit einer Frau allein ohne Mitwisser und Zeugen zusammenkommen. Ist etwas Vertrauliches zu besprechen, dann ist gewiß eine ältere zum Hause gehörige Amme vorhanden oder ein Mädchen, S. 133 eine Witwe oder eine verheiratete Frau. So ungesellig ist keine Frau, daß Du der einzige sein sollst bei dem sie es wagen kann sich anzuvertrauen. Gehe jedem Verdacht aus dem Wege! Triff Deine Maßnahmen, wo immer Du die Möglichkeit eines solchen ahnst daß er sich nicht zu äußern wagt. Häufige kleine Geschenke wie Schweißtücher, Stirnbinden, Taschentücher 9 und Delikatessen sowie galante, zärtliche Brieflein sind der heiligen Liebe unbekannt. Wir erröten schon, wenn wir in den Lustspielen Ausdrücke hören wie „mein Honig, mein Licht, meine Sehnsucht“, 10 all diese Süßlichkeiten und Liebenswürdigkeiten, all diese lächerlichen Höflichkeitsfloskeln und andere Torheiten Verliebter. Wir verachten sie bei den Weltleuten, erst recht aber bei Geistlichen und Mönchen, die ein priesterliches Amt bekleiden. Bei ihnen soll die Lebensweise dem Priestertum und das Priestertum der Lebensweise zur Zierde gereichen. Ich sage dies nicht, weil ich es etwa bei Dir oder anderen heiligen Männern befürchte, sondern weil es in jedem Berufe, in jedem Stande, in jedem Geschlechte Gute und Böse gibt Schließlich heißt ja die Bösen verurteilen nichts anderes wie die Guten loben.
Ps. 72, 26; Klagel. 3, 24. ↩
Deut. 32, 9. ↩
Ebd. 18, 1 f. ↩
Kor. 9, 13; 1 Tim. 6, 8. ↩
Vergil, Aen. III 436. ↩
Jer. 12, 13 (nach LXX). ↩
1 Kor. 15, 33. ↩
Gen. 3. ↩
Der Stirnbinden (fasciolae) bedienten sich die Römerinnen, um eine kleine Stirn, ein Zeichen von Schönheit vorzutäuschen (vgl Horaz, Carm. I 33, 5; Isidor, Orig. XIX 31, 2). Sie heißen auch nimbi (vgl. Arnobius, Adv. nat. II 41, 48). Die vestes ori applicatae sind Taschentücher, deren Funktion auch die sudaria erfüllen (vgl. Sueton, Nero 25). Gr. II 211 übersetzt „die an den Mund gehaltenen Kleider“. Vestis kommt auch in der hier nicht unpassenden Bedeutung „Schleier“ vor (vgl. Statius, Thebais VII 245). ↩
mel meum bei Plautus, Poenulus 367. 383. 388; desiderium meum bei Cicero, Ep. XIV 2, 2. 4; Catull, Carm. 2, 5; lumina tua bei Martial, Epigr. XI 29, 3. ↩
