15. Von der Betrachtung Gottes.
Die Betrachtung Gottes wird in vielfacher Weise geübt; denn Gott wird nicht allein in der Bewunderung seiner unbegreiflichen Wesenheit erkannt, — was ja noch verborgen ist und nur aus der Verheissung gehofft wird, — S. a309 sondern man sieht ihn auch in der Größe seiner Geschöpfe oder in der Betrachtung seiner Gerechtigkeit oder in der Hilfe seines täglichen Wirkens. So, wenn wir mit ganz reinem Geiste durchgehen, was er mit seinen Heiligen die einzelnen Geschlechter hindurch gethan; wenn wir mit zitternden Herzen bewundern seine Macht, mit der er Alles leitet, ordnet und regiert, und die Unermeßlichkeit seines Wissens und das Auge, welchem die Geheimnisse der Herzen sich nicht verbergen können; wenn wir den Sand des Meeres und die Zahl der Wellen, die er gezählt und erkannt hat, zagend bedenken; wenn wir staunend betrachten, wie die Tropfen des Regens, die Stunden und Tage der Jahrhunderte, wie alles Vergangene und Zukünftige seinem Wissen gegenwärtig ist; wenn wir seine unaussprechliche Milde betrachten, mit der er unzählbare Schandthaten, die jeden Augenblick vor seinem Angesichte begangen werden, mit unermüdeter Langmuth erträgt: wenn wir die Berufung erwägen, mit der er uns ohne vorausgegangene Verdienste durch die Gnade seines Erbarmens aufnahm; wenn wir endlich mit einem gewissen Entzücken der Bewunderung sehen, wie viele Gelegenheiten des Heiles er denen verliehen hat, die er als Kinder annehmen wollte: da er uns so geboren werden ließ, daß selbst von der Wiege an uns die Gnade und die Kenntniß seines Gesetzes überliefert wurde; da er, das Widerstrebende in uns selbst besiegend, nur für die Zustimmung des guten Willens uns mit ewiger Seligkeit und immerwährendem Lohne beschenkt; da er zuletzt den Rathschluß seiner Menschwerdung zu unserm Heile annahm und die Wunder seiner Heilsgeheimnisse bei allen Völkern verbreitete. Es gibt aber auch zahllose andere Betrachtungen dieser Art, die nach Beschaffenheit des Lebens und der Reinheit des Herzens in unserm Geiste entstehen, und durch welche Gott entweder mit reinem Blicke geschaut oder vor Augen behalten wird. Diese wird freilich Keiner immerwährend festhalten, in welchem noch Etwas von den fleischlichen Affekten lebt, denn der Herr sagt: „Du wirst mein Angesicht nicht sehen können; denn nicht wird mich S. a310 ein Mensch sehen und leben,“ nemlich dieser Welt und den irdischen Leidenschaften.
