8. Von dem Hauptstreben nach Beschauung der göttlichen Dinge und von dem Gleichnisse der Maria und Martha.
Das also muß unser Hauptringen, das die unveränderliche, immer angestrebte Absicht unsers Herzens sein, daß der Geist den göttlichen Dingen und Gott immer anhänge, und was davon verschieden ist, das muß, wie groß es auch sei, doch für das Zweite oder auch Letzte oder für gewiß schädlich gehalten werden. Ein Bild dieses Geistes oder Benehmens wird uns auch im Evangelium durch Martha und Maria ganz schön vorgestellt. Denn da Martha mit allerdings heiligen Dienstleistungen beschäftigt war, indem sie ja dem Herrn selbst und seinen Jüngern diente, während Maria nur auf die geistige Lehre achtete S. a297 und zu den Füßen Jesu weilte, die sie küßte und mit dem Balsam eines aufrichtigen Bekenntnisses salbte: erhielt doch sie von dem Herrn den Vorzug, weil sie den bessern Theil erwählt habe, den, der von ihr nicht könne genommen werden. Denn als Martha sich abmühte in frommer Sorgfalt und vielseitiger Geschäftigkeit und sah, daß sie allein zu einer solchen Bedienung nicht hinreichen könne, da erbat sie von dem Herrn die Hilfe ihrer Schwester und sagte: „Sorgt es dich nicht, daß meine Schwester mich allein läßt bei der Aufwartung? Sag ihr doch, daß sie mir helfe!“ Wahrhaftig, sie rief sie nicht zu einem eitlen Werk, sondern zu einem lobenswerthen Dienst. Und doch, was hört sie vom Herrn? „Martha, Martha, du bist besorgt und kümmerst dich um Vieles; aber es ist Weniges oder auch nur Eines nothwendig; Maria hat den guten Theil erwählt, der nicht von ihr wird genommen werden.“ Ihr seht also, daß der Herr das größte Gut in die Beschauung allein, also in die göttliche Contemplation gesetzt bat. Deßhalb urtheilen wir, daß die übrigen Tugenden, obwohl wir sie für nothwendig und nützlich erklären, doch auf die zweite Stufe zu stellen seien, weil sie alle zur Erreichung dieser einzigen erworben werden. Denn indem der Herr sagt: „Du bist besorgt und kümmerst dich um Vieles; Weniges aber oder auch nur Eines ist nothwendig,“ — setzt er das höchste Gut nicht in die thätige Übung, so lobenswerth und reich an vielen Früchten sie auch ist, sondern in die Beschauung Seiner, die wahrhaft einfach und eine ist. So verkündet er, daß wenig nothwendig sei zur vollkommenen Glückseligkeit, d. i. zu jener Beschauung, die zuerst in der Betrachtung weniger Heiligen geübt wird, wovon aufsteigend der, welcher noch auf dem Wege ist, mit Gottes Hilfe zu dem kommt, was das Eine genannt wird. d. i. die Anschauung Gottes allein, so daß er nemlich, auch die Handlungen und wunderbaren Leistungen der Heiligen überschreitend, nur mehr an Gottes Schönheit und Wissenschaft sich weidet. Maria hat also den besten Theil erwählt, der nicht von ihr wird genommen werden. Das müssen wir uns S. a298 genauer ansehen; denn wenn er sagt, Maria hat den guten Theil erwählt, so lehrt er doch, obwohl er von Martha schweigt und sie durchaus nicht zu tadeln scheint, durch das Lob Jener, daß Diese die Geringere sei. Wieder, wenn er sagt, der nicht von ihr wird genommen werden, zeigt er, daß Dieser ihr Theil genommen werden könne; denn die körperlichen Leistungen können nicht mit dem Menschen beständig dauern; aber über das Streben Jener lehrt er uns, daß es durchaus kein Ende haben könne.
