33. Von dem Brande der Stadt Paris
Es lebte in diesen Tagen in der Stadt Paris ein Weib, die sprach zu den Einwohnern: „Fliehet aus dieser Stadt, denn wisset, eine Feuersbrunst wird sie zerstören!" Viele verlachten sie und meinten, sie spräche dies, weil sie die Lose geworfen(2) oder törichte Dinge geträumt, oder auch weil der Mittagsteufel aus ihr spreche(3); sie aber antwortete: „Dem ist nicht so, wie ihr saget, sondern ich spreche die Wahrheit, denn ich sah im Traum von der Kirche des heiligen Vincentius(4) einen Mann kommen in Hellem Glanze, der trug in der Hand eine Wachskerze und zündete die Häuser der Kaufleute der Reihe nach an."
In der dritten Nacht, als das Weib dies gesagt hatte, zündete, als die Morgendämmerung anbrechen wollte, ein Bürger sich ein Licht an und ging in seinen Speicher, nahm Öl und was er sonst bedurfte heraus und ging fort, ließ aber das Licht bei einer Oltonne stehen. Dieses Haus war das erste am Tore, das nach Mittag aus der Stadt führt. Und es fing S. 298 alsbald Feuer nnd brannte nieder. Auch die ändern wurden schnell vom Feuer ergriffen. Und als die Feuersbrunst sich über das Gefängnis wälzte und die, welche darin gefesselt waren, bedrängte, erschien ihnen der heilige Germanus, zerbrach die Pfosten und die Ketten, woran sie gebunden waren, öffnete ihnen die Türe des Kerkers und ließ sie unversehrt entkommen(1). Sie aber begaben sich, als sie dem Kerker ent-flohen waren, nach der Kirche des heiligen Vincentius, wo das Grab des heiligen Bischofs(2) ist. Da nun die Flammen vom Winde über die ganze Stadt nach allen Seiten hin verbreitet wurden, und der Brand mit aller Gewalt wütete, fing er an, sich auch dem ändern Tore zu nähern, wo das Bethaus des heiligen Martinus liegt, das aus dem Grunde an dieser Stelle erbaut war, weil er dort einmal einen Aussätzigen durch einen Kuß geheilt hatte(3) Dies Bethaus hatte aber ein Einwohner aus Fachwerk stattlich hergestellt, und dieser Mann baute auf den Herrn und vertraute auf die Wunderkraft des heiligen Martinus. Deshalb brachte er sich und alle seine Habe in die schützenden Wände des Bethauses und sprach: „Ich glaube und habe die Zuversicht, daß der die Feuersbrunst von diesem Platze fernhalten wird, der so oft dem Feuer geboten und an dieser Stelle die Haut des Aussätzigen durch einen Kuß geheilt hat." Es näherte sich jedoch immer mehr das Feuer, große Feuerklumpen flogen dorthin und drangen durch die Wand des Bethauses, wo sie aber bald erkalteten. Da rief das Volk dem Manne und seinem Weibe zu: „Fliehet, ihr Unglücklichen, daß ihr euch noch rettet. Denn sehet, schon stürzt sich die Gewalt des Feuers auf euch, ein dichter Regen von glühender Asche und Kohlen dringt bis zu euch; verlasset S. 299 euer Bethaus, auf daß ihr nicht mit demselben verbrennet!" Aber jene beteten und ließen sich nicht durch ihr Geschrei beirren. Und das Weib ging nicht einmal von dem Fenster fort, obwohl bisweilen schon die Flammen hineinschlugen; denn sie war fest gegründet in dem Glauben an die Wunderkraft des heiligen Bischofs. Und diese erwies sich so groß, daß er nicht nur dies Bethaus samt der Wohnung seines Schützlings bewahrte, sondern auch nicht einmal die Häuser, die herum lagen, trotz aller Wut der Flammen beschädigen ließ. Dort auf der einen Seite der Brücke(1) ließ der Brand nach. Auf der ändern Seite aber richtete er alles zugrunde, so daß nur der Fluß(2) ihm ein Ziel setzte. Die Kirchen jedoch und die Kirchenhäuser wurden nicht eingeäschert.
Man erzählte sich aber, diese Stadt sei von altersher gleichsam geweiht gewesen, so daß dort das Feuer keinen Schaden anrichten und keine Schlange und Ratte sich zeigen durfte. Kurz zuvor aber hatte man, als man eine Kloake an der Brücke reinigte und den Schmutz aus derselben fortschaffte, darin eine eherne Schlange und Ratte gefunden und sie fortgenommen(3). Seitdem erschienen dort unzählige Ratten und Schlangen, und die Stadt fing an durch Feuersbrünste zu leiden.
