11. Worte des Abtes Serapion von der Kraftlosigkeit geoffenbarter Gedanken und der Gefahr des Selbstvertrauens.
Als ich noch ein Knabe war, sagte er, und mit dem Abte Theon zusammenwohnte, hatte mir der Feind durch seine Versuchung die Gewohnheit beigebracht, nachdem ich mit dem Greise um die neunte Stunde mich gelabt hatte, täglich einen Zwieback in der Brustfalte zu verbergen, den ich dann später, ohne daß Jener es wußte, heimlich aß. Obwohl ich nun diesen Diebstahl meiner Luft zu Lieb und in der Unenthaltsamkeit der einmal eingewurzelten Begierde ohne Aufhören beging, so fühlte ich doch, wenn die trügerische Gier gestillt und ich zu mir selbst gekommen war, über das begangene Verbrechen des Diebstahls mehr Pein, als ich Lust beim Essen gehabt hatte. Als ich nun jeden Tag mich angetrieben fühlte, dieß so beschwerliche Thun trotz der Bitterkeit des Herzens auszuüben, gleich als wäre es mir von den Vögten Pharaos statt der Ziegel aufgegeben, 1 und mich doch nicht herausreissen konnte aus dieser grausamen Tyrannei, da ich mich schämte, dem Greise den heimlichen Diebstahl zu offenbaren, da traf es sich auf Veranlassung Gottes, der mich von diesem Joche der Sklaverei befreien wollte, daß einige Brüder die Zelle des Greises ihrer Erbauung wegen aufsuchten. Als nun nach der Erfrischung die geistliche Besprechung in Gang S. a336 gekommen war und der Greis in der Antwort auf die vorgelegten Fragen über das Laster der Gefräßigkeit und die Herrschaft der geheimen Gedanken handelte und ihre Natur auseinandersetzte, sowie die furchtbare Herrschaft, welche sie haben, so lange sie verborgen werden, da ward ich getroffen von der Macht der Unterredung und erschreckt von dem anklagenden Gewissen, als glaubte ich, es sei Alles nur deßwegen vorgebracht worden, weil der Herr dem Greise die Geheimnisse meines Herzens geoffenbart hätte, und wurde zuerst zu heimlichen Seufzern bewegt, dann mit der Zunahme der Herzenszerknirschung in offenes Schluchzen und Thränen ausbrechend holte ich den Zwieback, den ich nach meiner lasterhaften Gewohnheit zum heimlichen Essen weggenommen hatte, von der Brust, dieser Mitwisserin und Bewahrerin meines Diebstahls, hervor und bekannte, ihn offen hinlegend, zur Erde niedergeworfen und mit der Bitte um Verzeihung, wie ich täglich heimlich gegessen hätte. Mit reichlich vergossenen Thränen bat ich, daß sie mir vom Herrn die Lösung dieser so harten Gefangenschaft erflehen möchten. Dann sprach der Greis: „Habe Muth, o Knabe, es befreit dich von diesen Banden, auch wenn ich schweige, dein Bekenntniß. Denn über deinen siegreichen Gegner hast du heute triumphirt und ihn stärker durch dein Bekenntniß hinausgestoßen, als du selbst von ihm durch dein Schweigen unterjocht warst. Bisher hast du ihn in dir herrschen lassen, ohne ihn durch eigenen oder fremden Tadel zu beschämen nach jenem Ausspruche Salomons: „Weil nicht schnell Widerspruch geschieht denen, die Böses thun, deßhalb ist das Herz der Menschenkinder voll zu üblen Thaten.“ 2 Und deßhalb wird dich nach dieser Eröffnung der so nichtswürdige Geist nicht mehr beunruhigen können, noch wird die scheußliche Schlange fortan ein Versteck in dir behaupten können, nachdem sie aus der Finsterniß deines Herzens durch dein heilsames Bekenntniß an’s Licht gezogen wurde.“
S. a337 Noch hatte der Greis diese Worte nicht vollendet, siehe, da kam eine brennende Fackel aus meinem Busen hervor und erfüllte die Zelle so mit Schwefelgeruch, daß die Heftigkeit des Gestankes uns kaum in ihr bleiben ließ. Der Greis nahm die Ermahnung wieder auf und sagte: „Siehe, der Herr hat dir die Wahrheit meiner Worte sichtbar bewiesen, damit du mit eigenen Augen sehest, wie der Anstifter deiner Leidenschaft durch das heilsame Bekenntniß aus deinem Herzen gejagt sei, und damit du durch die sichtbare Austreibung des Feindes erkennest, daß er nach seiner Entdeckung durchaus keinen Platz mehr in dir haben werde.“ Und so ist also, sagte er, nach dem Ausspruche des Greises durch die Kraft meines Bekenntnisses die Herrschaft jener diabolischen Tyrannei so in mir ausgelöscht und auf immer betäubt worden, daß der Feind mir nicht einmal eine Erinnerung an jene Begierde einzugeben versuchte und ich mich nachher nie durch eine Anreizung dieses Diebsverlangens bewegt fühlte. Diesen Sinn finden wir auch im Prediger sehr schön in bildlicher Darstellung: 3 „Wenn die Schlange beißt im Stillen, so hat der Beschwörer keine Macht, zu zeigen, daß der Biß der schweigenden Schlange verderblich sei,“ das heißt, wenn nicht durch die Beicht der teuflische Einfall oder Gedanke irgend einem Beschwörer geoffenbart wird, d. i. einem geistigen Manne, der durch die Gesänge der hl. Schriften die Wunde sogleich zu heilen und das verderbliche Schlangengift aus dem Herzen zu ziehen gewohnt ist, so kann er dem Gefährdeten oder zu Grunde Gehenden nicht zu Hilfe kommen. Auf diese Weise also werden wir am leichtesten zum Verständniß der wahren Klugheit kommen können, wenn wir den Fußtapfen der Altmeister nachgehend uns weder herausnehmen, etwas Neues zu thun noch auf unser Urtheil hin zu entscheiden; sondern wir wollen in Allem so wandeln, wie es uns ihre Lehre und ihr tugendhaftes Leben lehrt. Durch diesen Unterricht S. a338 befestigt wird man nicht nur zur vollkommenen Weise der Klugheit gelangen, sondern auch bei allen Nachstellungen des Feindes ganz sicher bleiben. Denn durch kein anderes Laster zieht der Teufel einen Mönch so jäh abwärts und bringt ihn zum Tode, als wenn er ihn überreden konnte, mit Hintansetzung des Rathes der Altväter auf eigene Urtheil, auf eigene Entscheidung und Lehre zu vertrauen. Denn da alle Künste und Wissenschaften, die vom Menschengeiste erfunden wurden und nur den Vortheilen dieses zeitlichen Lebens dienen, doch, obwohl man sie mit Händen greifen und mit den Augen sehen kann, von Keinem recht begriffen werden können ohne den Unterricht eines Lehrers, wie thöricht ist es dann zu glauben, diese Kunst allein bedürfe keines Lehrers, während sie doch unsichtbar und geheim ist und nur dem reinsten Herzen anschaulich wird; da ferner ein Irrthum in ihr nicht zeitlichen Schaden zufügt oder einen, der sich leicht ausbessern läßt, sondern das Verderben der Seele und den ewigen Tod! Denn sie hat einen Kampf bei Tag und Nackt nicht gegen sichtbare Feinde, sondern gegen unsichtbare und grausame, und hat einen geistigen Streit nicht gegen Einen oder Zwei, sondern gegen unzählige Schaaren; eine Niederlage hier ist aber um so viel gefährlicher als sonstwo, je gehässiger dieser Feind und je verborgener der Zusammenstoß ist. Deßhalb muß man immer den Fußtapfen der Altväter mit dem größten Fleiße nachgehen und diesen Alles vortragen, was in unsern Herzen auftaucht, ohne die Hülle der Verlegenheit!
