1.
Die Frage, welche Deine Heiligkeit an mich richtete, war bereits eine wissenschaftliche Leistung. Schon Deine Art der Fragestellung weist dem Gefragten den Weg zur Lösung der Schwierigkeit. Wer weise zu fragen versteht, wird für einen Weisen gehalten. 1 Du schreibst: „Wer ist der Vater im Evangelium, der sein Vermögen unter seine beiden Söhne aufteilt? Wer sind die beiden Söhne? Wer ist der ältere, wer der jüngere? Wie ist es zu verstehen, daß der jüngere sein Erbteil in Empfang nimmt, es mit Dirnen durchbringt, beim Eintritt einer Hungersnot vom Fürsten des Landes zum Schweinehirten bestellt wird, die Schoten ißt, zum Vater heimkehrt, mit einem Ringe und mit einem Gewande beschenkt wird, und daß man ihm zu Ehren das Mastkalb schlachtet? Wer ist der ältere Bruder? Wie kommt es, daß er vom Felde heimkehrend die Aufnahme des Bruders mit neidischem Auge sieht? und so fort, wie es im Evangelium des näheren beschrieben wird.“ 2 Dann fährst Du fort: „Ich weiß, daß die Auffassungen über diesen Text auseinandergehen. Viele beziehen den älteren Bruder auf die Juden, den jüngeren auf die Heiden. Aber ich frage: Wie kann man auf das jüdische Volk die Worte zuschneiden: So viele Jahre diene ich dir, nie habe ich dein Gebot übertreten, aber niemals hast du mir ein Böcklein geschenkt, so daß ich zusammen mit meinen Freunden ein Mahl hätte veranstalten können? 3 Wie ist die Antwort zu verstehen: Mein Sohn, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, gehört auch dir?“ 4 Du schreibst weiter: „Wollen wir aber das Gleichnis auf den Gerechten und auf den Sünder deuten, dann verträgt es sich doch nicht mit dem Begriff des Gerechten, daß er über das Heil eines anderen, zumal seines Bruders, betrübt ist. Wenn nämlich durch den Neid des Teufels der Tod in die Welt kam und alle, welche die gleiche Gesinnung hegen, seine Genossen sind, 5 dann S. b303 kann man doch der Person des Gerechten niemals einen solch abscheulichen Neid unterschieben, daß er draußen stehen bleibt, sich stur dem gütigen Vaterherzen widersetzt und, von Scheelsucht gepeinigt, sich allein von der Freude des ganzen Hauses ausschließt.“ 6
