34.
„Er aber gab seinem Vater zur Antwort: Siehe, so viele Jahre diene ich dir.“ 1 Der Vater ermahnt inständig zur Eintracht. Der Sohn folgt der Gerechtigkeit S. b322 des Gesetzes, aber er lehnt es ab, sich der Gerechtigkeit Gottes zu unterwerfen. 2 Gibt es eine größere Gerechtigkeit, als den Büßenden zu verzeihen, den verlorenen Sohn bei seiner Rückkehr wieder aufzunehmen? „Siehe, so viele Jahre habe ich dir gedient, und nie habe ich dein Gebot übertreten.“ 3 Heißt das etwa nicht, das Gebot übertreten, wenn man den anderen um seines Heiles willen beneidet, wenn man sich vor Gott seiner Gerechtigkeit rühmt, während doch vor ihm niemand rein ist? 4 Denn wer kann sich rühmen, ein keusches Herz zu besitzen, 5 auch wenn sein Leben nur einen Tag währte? David bekennt: „Siehe, in Sünden wurde ich empfangen, und in Ungerechtigkeit empfing mich meine Mutter.“ 6 In einem anderen Psalme spricht er: „Wenn Du auf die Missetaten achtest, o Herr, wer wird dann bestehen können?“ 7 Und da erkühnt sich dieser Sohn zu sagen, er habe niemals das Gesetz übertreten, obwohl er so oft wegen seines Götzenkultes der Gefangenschaft überantwortet wurde. „Siehe, so viele Jahre habe ich dir gedient, und nie habe ich dein Gebot übertreten.“ 8 Dazu bemerkt der Apostel Paulus: „Was sollen wir also sagen? Heiden, die nicht nach Gerechtigkeit strebten, haben die Gerechtigkeit erfaßt, die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben ist. Israel aber, das dem Gesetze der Gerechtigkeit nachging, hat sich nicht zum Gesetze der Gerechtigkeit durchgerungen. Weshalb? Weil es nicht aus dem Glauben, sondern aus den Werken des Gesetzes handelte.“ 9 Diese Worte passen auch auf einen Juden, der nach dem genannten Apostel in der Gerechtigkeit, welche aus dem Gesetze ist, ohne Tadel wandelte. 10 Immerhin glaube ich, daß ein solcher Jude mehr aus Ruhmsucht als der Wahrheit gemäß redet nach dem Beispiel des Pharisäers, der da betete: „Ich danke Dir, o Gott, daß ich nicht bin wie S. b323 die übrigen Menschen, wie die Räuber, die Ungerechten, die Ehebrecher und wie dieser Zöllner.“ 11 Ich bitte Dich, redet der ältere Bruder von dem jüngeren nicht genau so wie der Pharisäer über den Zöllner, wenn er den Vorwurf erhebt: „Sein ganzes Vermögen hat er durchgebracht, indem er mit Dirnen zusammenlebte?“ 12 Im übrigen straft auch die Rede des Vaters das Wort: „Niemals habe ich dein Gebot übertreten“ 13 Lügen; denn er sucht den Zürnenden, ohne die Wahrheit seiner Behauptung zu bestätigen, auf eine andere Weise zu beschwichtigen. Er spricht zu ihm: „Mein Sohn, du bist ja immer bei mir.“ 14 Keineswegs sagt er: „Mein Sohn, was du sagst, ist wahr; denn du hast alles getan, was ich angeordnet habe.“ Sondern er antwortet: „Du bist ja immer bei mir.“ 15 Bei mir bist du durch das Gesetz, welches dich bindet. Bei mir bist du, während du in den verschiedenen Gefangenschaften erprobt wirst. Bei mir bist du, nicht weil du meine Gebote erfülltest, sondern weil ich nicht zuließ, daß du in die weite Fremde reistest. Bei mir bist du endlich im Sinne jener Worte, die ich einst an David richtete: „Wenn seine Söhne mein Gesetz verlassen und nicht nach meinen Satzungen wandeln, wenn sie meine Rechte entheiligen und nicht beachten mein Gebot, dann suche ich mit der Rute ihre Frevel heim und ihre Sünden mit Schlägen. Doch meine Barmherzigkeit will ich dem Volke nicht entziehen.“ 16 Diese Stelle tut kund, wie falsch die Behauptung ist, mit der der ältere Sohn prahlt; denn er wandelte nicht in den Gesetzen Gottes, 17 keineswegs hat er dessen Gebote ausgeführt. Wir erfahren, in welchem Sinne er, der die Gebote nicht hielt, immer mit dem Vater war. Als er sich verging, wurde er mit der Rute heimgesucht, aber trotz der Heimsuchung entzieht ihm Gott sein huldvolles Erbarmen nicht. Doch man braucht nicht darüber zu erstaunen, daß er, der S. b324 seinem Bruder neidisch sein konnte, es nun auch wagte, seinen Vater zu belügen. Gibt es ja selbst am Tage des Gerichtes noch Menschen, die in ihrer Unverschämtheit so weit gehen, daß sie wahrheitswidrig behaupten: „Haben wir nicht in Deinem Namen gegessen und getrunken, viele Wunder gewirkt und Teufel ausgetrieben?“ 18 Die Worte: „Alles, was mein ist, ist auch dein“, 19 werde ich an geeigneter Stelle erklären.
Luk. 15, 29. ↩
Röm. 10, 3. 5. ↩
Luk. 15, 29. ↩
Job 4, 17. ↩
Sprichw. 20, 9 (nach LXX). ↩
Ps. 50, 7. ↩
Ebd. 129, 3. ↩
Luk. 15, 29. ↩
Röm. 9, 30 ff. ↩
Phil. 3, 6. ↩
Luk. 18, 11. ↩
Ebd. 15, 30. ↩
Ebd. 15, 29. ↩
Ebd. 15, 31. ↩
Ebd. ↩
Ps. 88, 31 ff. ↩
Ebd. 88, 31. ↩
Matth. 7, 22; Luk. 13, 26. ↩
Luk. 15, 31. ↩
