3.
Wenn auch die Gleichnisse vom verlorenen Schafe und von der Drachme den gleichen Sinn haben, so stehen sie jetzt nicht zur Erörterung. Es genügt, festzustellen, daß der Heiland diese Gleichnisse vorgetragen hat, damit sich über die Buße der Zöllner und Sünder alle freuen mögen, bei denen es keiner Buße bedarf, sowie sich auch bei der Auffindung des Schafes und der Drachme die Engel und die umwohnenden Nachbarinnen freuten. 1 Ich bin deshalb sehr erstaunt darüber, daß Tertullian in seinem Buche „Über die Ehrbarkeit“ gegen die Buße schrieb und der überlieferten Auffassung eine neue entgegensetzte, indem er behauptete, die Zöllner und Sünder, die mit dem Herrn speisten, seien Heiden gewesen, weil die Schrift sagt: „Keiner aus dem Hause Israels soll zu Abgaben verpflichtet werden.“ 2 Dann wäre ja auch der Zöllner Matthäus nicht aus der Beschneidung gewesen. 3 Auch jener Zöllner, der mit dem Pharisäer zusammen im Tempel betete und nicht wagte, seine Augen gen Himmel zu erheben, hätte nicht zum Volke Israel gehört. 4 Wie könnte dann aber Lukas berichten: „Und alles Volk, das ihn hörte, und die Zöllner gaben ihm recht und ließen sich taufen mit der Taufe des Johannes?“ 5 Wem möchte es glaubhaft scheinen, daß ein Heide den Tempel betrat, oder daß der Herr gemeinsam mit Heiden sich zu Tische setzte? Gerade hiervor hütete er sich ganz besonders, um nicht den Anschein zu erwecken, als sei er gekommen, das Gesetz aufzuheben. 6 Kam er doch in erster Linie zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. 7 Aus dem gleichen Grunde gab er dem kanaanäischen Weibe, das um S. b307 die Heilung seiner Tochter anhielt, den Bescheid: „Man darf den Kindern das Brot nicht wegnehmen, um es den Hunden zu geben.“ 8 Den Aposteln gibt er bei anderer Gelegenheit die Weisung: „Geht nicht auf den Weg der Heiden, und betretet nicht die Städte der Samaritaner!“ 9 Aus all dem ergibt sich, daß unter den Zöllnern nicht so sehr die Heiden, als vielmehr die Sünder schlechthin zu verstehen sind, mögen sie nun dem Heidentum oder dem Judentum angehören. Der Mann aber, der auf verschrobene Frauenzimmer hereinfiel 10 und die Lehre vertrat, daß büßende Christen nicht wieder in die kirchliche Gemeinschaft aufzunehmen wären, hat vergeblich den Beweis angetreten, daß die Zöllner keine Juden waren, so daß unter ihnen nur das Volk der Heiden verstanden werden könne. Ich werde also, um nicht zu weit auszuholen, den Wortlaut des Evangeliums vorlegen und nach Art eines Erklärers zum einzelnen meine Bemerkungen einflechten.
Luk. 15, 7. 9 f. ↩
Vgl. Tertullian, De pudic. 9 (BKV XXIV 406). Gedacht ist an Deut. 23, 18 (nach LXX). Jedoch hat die Stelle dort einen ganz anderen Sinn. Übrigens hat Hieronymus trotz der gegensätzlichen Auffassung in Einzelheiten wiederholt Anleihen aus diesem Kapitel gemacht. ↩
Matth. 9, 9. ↩
Luk. 18, 13. ↩
Ebd. 7, 29. ↩
Matth. 5, 17. ↩
Ebd. 10, 6. ↩
Matth. 15, 26. ↩
Ebd. 10, 5. ↩
Hinweis auf Maximilla und Priscilla, die Begleiterinnen des Montanus, dessen Irrlehre sich Tertullian zuwandte. ↩
