2.
Bei den übrigen Gleichnissen, deren Deutung der Erlöser nicht gegeben hat, pflegen wir zu untersuchen, weshalb sie vorgetragen wurden. Genau so müssen wir auch hier prüfen, welche Umstände die Worte des Herrn veranlaßt haben, auf welche Frage das Gleichnis antwortet. Schriftgelehrte und Pharisäer schäumten vor Wut, als sie fragten: „Warum nimmt er die Sünder auf und ißt mit ihnen?“ 1Der vorangehende Text hatte nämlich die Worte voraufgeschickt: „Alle Zöllner und Sünder traten an ihn heran, um ihn zu hören.“ 2 Daher also der ganze Neid, daß der Herr Unterhaltung und Tisch der Leute nicht mied, welche das Gesetz mit seinen Vorschriften verurteilte. So steht es bei Lukas. Bei Matthäus lesen wir: „Als sie sich im Hause zu Tische niederließen, da kamen viele Sünder und Zöllner und nahmen mit Jesus und seinen Jüngern am Tische Platz. Da die Pharisäer dies bemerkten, sagten sie zu seinen Jüngern: Warum ißt euer Meister mit Zöllnern und Sündern? Wie Jesus dies hörte, antwortete er: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Deshalb gehet zuerst hin und lernet, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder.“ 3 Auch Markus stimmt mit diesem Wortlaut überein. 4 Die ganze Erörterung ging also, wie ich andeutete, vom Begriff des Gesetzes aus. Das starre Gesetz der Gerechtigkeit 5 aber kannte keine Milde. Wer immer ein Ehebrecher, ein Mörder, ein Betrüger war, kurz, wer sich einer Todsünde schuldig gemacht hatte, fand auf seine Buße hin keine erlösende Verzeihung. Es kannte nur S. b304 den Grundsatz: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben. 6 So waren alle vom Wege abgewichen, alle waren unnütze Knechte geworden. Keiner war, der Gutes tat, auch nicht ein einziger. 7 Wo aber die Sünde ins Übermaß wuchs, da wurde sie übertroffen durch das Maß der Gnade, 8 und Gott schickte seinen Sohn, der aus dem Weibe gebildet war. 9 Dieser zerstörte die trennende Scheidewand, 10 machte aus beiden Völkern eines und milderte die Strenge des Gesetzes durch die Gnade des Evangeliums. Deshalb schrieb auch Paulus an die einzelnen Kirchen: „Gnade sei euch und Friede von Gott dem Vater und dem Herrn Jesus Christus.“ 11 Gnade, die nicht auf Grund eines Verdienstes zugewiesen wird, sondern ein freies Geschenk des Gebers ist; 12 Friede aber, durch den wir mit Gott ausgesöhnt wurden; haben wir doch als Mittler den Herrn Jesus, der unsere Sünden nachließ 13 und sie zerstörte, da der Schuldbrief des Todes, den er ans Kreuz heftete, gegen uns zeugte. 14 Er machte die Fürsten und Mächte zum Gespötte, als er über sie am Holze des Kreuzes seinen Triumph feierte. 15 Kann es eine größere Milde geben als jene, die sich darin offenbarte, daß Gottes Sohn als Sohn eines Menschen geboren wurde, daß er zehn Monate alle Widrigkeit ertrug, 16 die Stunde der Geburt erwartete, sich in Windeln einhüllen ließ, seinen Eltern Untertan war, in die einzelnen Lebensstufen hineinwuchs 17 und nach allen Schmähungen, Schlägen ins Antlitz und Geißelhieben den schmählichen Kreuzestod für uns auf sich nahm? Uns erlöste er vom Fluche des Gesetzes, 18 indem er gehorsam wurde bis zum Tode am S. b305 Kreuze, 19 und vollendete durch sein Werk, worum er einst als unser Mittler gebetet hatte, als er sprach: „Vater, ich will, daß auch sie in uns eins werden, wie ich und Du eins sind.“ 20 Weil er gekommen war, um durch seine unaussprechliche Barmherzigkeit zu überwinden, was dem Gesetze, durch das niemand gerechtfertigt werden konnte, unmöglich war, 21 berief er Zöllner und Sünder zur Buße. Er suchte ihre Gesellschaft beim Mahle auf, um sie auch während der Mahlzeiten zu unterweisen. Wer die Evangelien aufmerksamen Sinnes durchliest, dem muß es klar sein, daß Speise und Trank, jeder Schritt des Heilandes, kurz alles, was er unternahm, nur auf die Rettung der Menschen abzielte. Als die Schriftgelehrten und Pharisäer dies bemerkten, warfen sie ihm vor, daß er gegen das Gesetz handle, und sagten: „Sehet den Schlemmer und Weintrinker, den Freund der Zöllner und Sünder!“ 22 Vorher waren sie bereits über den Herrn hergefallen, weil er am Sabbate heilte. 23 Diese ihre Anschuldigungen wollte er durch ein Beweisverfahren, welches seine Güte offenbaren sollte, ausräumen. 24 Zu diesem Zwecke trug er drei Gleichnisse vor. Das erste handelt von den 99 Schafen, die der Hirte in den Bergen zurückließ, und von dem einen verlorenen, das er auf seinen Schultern nach Hause trug. 25 Im zweiten ist die Rede von der Drachme, welche eine Frau überall mit der Laterne suchte. Als sie gefunden wurde, war die Freude so groß, daß die Frau ihre Nachbarinnen zusammenrief und zu ihnen sprach: „Wünschet mir Glück; denn ich habe die Drachme, welche mir verlorenging, wiedergefunden!“ 26 Das dritte Gleichnis aber ist das von den beiden Söhnen, 27 über welches ich Deiner Anweisung gemäß einige Ausführungen machen soll.
Ebd. 15, 2. ↩
Ebd. 15, 1. ↩
Matth. 9, 10 ff. ↩
Mark. 2, 15 ff. ↩
2 Makk. 10, 12. ↩
Exod. 21, 23 f. ↩
Ps. 13, 3; Röm. 3, 12. ↩
Röm. 5, 20. ↩
Gal. 4, 4. ↩
Eph. 2, 14. ↩
Röm. 1, 7; 1 Kor. 1, 3; 2 Kor. 1, 2; Gal. 1, 3; Eph. 1, 2; 2 Tim. 1, 2; Tit. 1, 4; Philem. 3. ↩
Röm. 9, 12. ↩
Ebd. 5, 10; 1 Joh. 2, 1 f. ↩
Kol. 2, 13 f. ↩
Kol. 2, 15. ↩
Vergil, Buc. IV 61. ↩
Luk. 2, 12. 51 f. ↩
Gal. 3, 13. ↩
Phil. 2, 8. ↩
Joh. 17, 21. ↩
Röm. 8, 3; Gal. 2, 16. ↩
Matth. 11, 19. ↩
Luk. 6, 6 ff. ↩
Vgl. Tertullian, De pudic. 9 (BKV XXIV 406). ↩
Luk. 15, 4 ff. ↩
Ebd. 15, 8 ff. ↩
Ebd. 15, 11 ff. ↩
