24. Ode
Die Taube flatterte über dem Gesalbten, denn er war für sie das Haupt, und sang Lob über ihn, und ihre Stimme wurde gehört. 2 Und es fürchteten sich die Einwohner und die Seßhaften erschraken, 3 und der Vogel ließ seine Schwingen (müssig), und alles Gewürm starb in seiner Höhle, und die Abgründe, die1 verborgen gewesen waren, öffneten sich und suchten S. 57 den Herrn (ängstlich) wie Gebärende; 4 und es wurde ihnen nicht Speise gegeben, denn es war keine für sie vorhanden. 5 Und man versiegelte die Abgründe mit dem Siegel des Herrn, und es gingen zugrunde durch diesen Gedanken sie, die vorher existiert hatten, 6 denn sie waren verderbt von Anfang an, und die Vollendung ihrer Verderbtheit war das Leben. 7 Und es ging von ihnen alles zugrunde, was schwach war, denn es war nicht möglich, das Wort zu geben, daß sie bleiben sollten. 8 Und der Herr vernichtete die Gedanken aller derer, bei denen die Wahrheit nicht war; 9 denn es waren der Wahrheit verlustig gegangen, die sich in ihrem Herzen erhoben hatten, und sie waren verworfen worden, weil bei ihnen nicht die Wahrheit war. 10 Denn der Herr hat seinen Weg gezeigt und hat seine Gnade weit ausgebreitet, und diejenigen, die ihn2 verstehen, kennen seine Heiligkeit. Hallelujah.
(Zu Ode 24.)
[Forts. v. S. 56 ] 1 f. Diese Ode bereitet dem Verständnis die größten Schwierigkeiten oder vielmehr, sie ist als Ganzes und in mehreren Einzelheiten völlig unverständlich. Gleich der erste Vers ist ganz dunkel. Ist an die Erzählung von der Taufe Christi gedacht? So scheint es; aber nicht nur das Folgende stimmt dazu gar nicht, sondern auch die Aussage, daß der Messias das Haupt der Taube sei, ist auffallend. Ist sie als sein Bote gedacht? Wenn aber die Stimme der Taube die Stimme des Gerichts ist, welches sich nun sofort vollzieht, darf dann noch an die Taufe Jesu gedacht werden? Muß nicht ein ganz anderer Zusammenhang zwischen Taube und Messias bestehen als der in der evangelischen Geschichte vorausgesetzte, so daß diese Geschichte ausscheidet? Dann müßte der unsrer Ode zugrunde liegende Mythus umgekehrt für die christliche Taufgeschichte herangezogen werden. Daß von der Taube gesagt wird, daß sie Lob über den Messias gesungen habe, spricht für die Beziehung auf die evangelische Taufgeschichte; aber das ist auch der einzige übereinstimmende Zug. Daß die Stimme der Taube gehört wurde, leitet schon zu etwas Fremdem über. Ist nicht das Flattern über dem Gesalbten eine christliche Interpolation in der rein jüdischen Ode, so daß der Anfang einfach gelautet hat: „Die Taube flatterte über der Erde, und ihre Stimme wurde gehört“? Dann ist an die rabbinische Vorstellung vom h. Geist als Taube, vielleicht auch an die syrischen und phönizischen Vorstellungen von der Taube als göttliche Botin und Gehilfin zu denken. (Von Gottes Fittichen ist 28, 6 die Rede). Dazu paßt auch v. 2, ja dieser Vers verlangt geradezu die Conjectur „Erde“. Also ist v. 1 christlich interpoliert. 3. Die Taube erscheint hier als der Lebensgeist; wenn sie ihre Schwingen müßig läßt, tritt der Tod ein. Aber von hier ab ist die Verworrenheit so groß (auch kann der Text an mehreren Stellen nicht richtig sein, s. z. B. v. 6), daß man nur sagen kann, daß hier eine Schilderung vom Anfang des Gerichts vorliegt, das sich auch auf das Totenreich erstreckt, sonst aber auf jede Erklärung verzichten muß. In v. 3 übersetzt Harris: „sie schrien zum Herrn“. — In der Überlieferung ist der evangelische Bericht von der Taufe Jesu schon frühe mannigfach ausgeschmückt worden, aber diese Erzählung hat schlechterdings keine Parallele; daher ist der Recurs auf ein apokryphes Evangelium hinfällig. Harris, der ihn versucht, legt großes Gewicht darauf, daß es bei Justin (Dial. 88) u. A. heißt: ἐπιπτῆναι ἐπ’ αὐτὸν ὡς περιστερὰν τὸ ἅγιον πνεῦμα, und vergleicht damit den Ausdruck in unserer Ode. Allein das ist doch eine zu geringfügige Parallele. Harris meint weiter, die Taufe und der Descensus ad inferos seien in der Ode möglicherweise verbunden und dafür könne es in der kirchlichen Legende eine Tradition gegeben haben; aber abgesehen von den ganz unsicheren Spuren einer solchen Verbindung (Harris vergleicht Desc. ad inf. 21: „Ego Joannes vocem patris de caelo super eum intonantem audivi et proclamantem: Hic est filius meus dilectus, in quo mihi bene complacuit. Ego ab eo responsum accepi, quia ipse descensurus esset ad inferos“) — der Messias steigt in unsrer Ode nicht in die Unterwelt und vollzieht hier überhaupt nicht das Gericht oder hält einen Triumph, und die Stelle im „Desc. ad inferos“ verheißt nur, daß Jesus später in die Unterwelt steigen werde, bez. sagt nichts über den Zeitpunkt.
