42. Ode
[Forts. v. S. 72 ] Ich habe meine Hände ausgestreckt und habe mich meinem Herrn genähert, 2 denn das Ausbreiten meiner Hände ist das Zeichen dafür1; 3 mein Ausbreiten (bedeutet) das ausgestreckte Holz, welches am Wege des Gerechten hing. 4 Und ich bin ohne Nutzen für die geworden, die mich nicht ergriffen haben, und ich werde bei denen sein, die mich lieben. 5 Alle meine Verfolger sind gestorben, und es haben mich gesucht die, welche ihre Hoffnung auf mich setzten, weil ich lebe, 6 und ich bin aufgestanden, bin bei ihnen und rede durch ihren Mund; 7 denn sie haben ihre Verfolger verachtet, 8 und ich habe auf sie das Joch meiner Liebe gelegt. 9 Wie der Arm des Bräutigams auf der Braut, 10 so ist mein Joch auf denen, die mich kennen, S. 73 11 und wie das Brautlager, das ausgebreitet ist im Hause des Brautpaares, 12 so ist meine Liebe über denen, die an mich glauben. 13 Ich bin nicht verschmäht worden, auch wenn man es von mir glaubte, 14 und ich bin nicht zugrunde gegangen, auch wenn man es von mir dachte. 15 Die Hölle hat mich gesehen und war barmherzig, 16 und der Tod hat mich zurückkehren lassen und viele mit mir. 17 Essig und Bitterkeit bin ich ihm (dem Tode) geworden2 und ich stieg hinab mit ihm (dem Tode) so tief wie sie (die Hölle) war. 18 Füße und Haupt machte er schlaff [lies: „machte ich schlaff“], denn sie konnten mein Antlitz nicht ertragen. 19 Und ich veranstaltete eine Versammlung der Lebenden unter seinen (des Todes) Toten und redete mit ihnen mit lebendigen Lippen, 20 damit mein Wort nicht vergeblich wäre. 21 Und es eilten zu mir jene, die gestorben waren, und riefen und sprachen: „Erbarme dich unser, Sohn Gottes, und handle mit uns nach deiner Freundlichkeit, 22 und führe uns heraus aus den Banden der Finsternis und öffne uns die Tür, durch die wir hinausgehen sollen, 23 denn wir sehen, daß unser Tod nicht an dich herantritt. 24 Laß auch uns erlöst sein mit dir, denn du bist unser Erlöser“. 25 Ich aber hörte ihre Stimme und schrieb meinen Namen auf ihr Haupt, 26 denn freie Männer sind sie, und mir gehören sie an. Hallelujah.
(Zu Ode 42.)
[Forts. v. S. 72 ] 1 ff. Diese Ode ist unter allen in bezug auf Sinn und Composition die schwierigste; ich halte sie wie die 41. für eine Compilation. Sie beginnt in fast wörtlicher Übereinstimmung mit dem Gedanken, den die Ode 27 zum Ausdruck gebracht hat, d. h. mit einem christlichen Gedanken (v. 3: „hing“ ist unerträglich). Aber er ist einem älteren jüdischen Stück vorgesetzt; denn v. 4 ff. spricht der aus vielen Oden uns bekannte Sänger (v. 4 „ohne Nutzen“ ist dunkel; Harris übersetzt: „of no account“; ebenso ist v. 5 b u. 6 dunkel; Harris bietet: „they sought after me who supposed that I was alive“, was unmöglich ist; v. 6 a darf nicht als förmliche Auferstehung verstanden werden); der Überarbeiter will diese Verse auf Jesus Christus bezogen wissen, aber ursprünglich haben sie nichts mit ihm zu tun. Wie weit aber dieses Stück reicht, läßt sich schwer entscheiden. Eines aber ist deutlich: in v. 15 u. 16 liegt eine ganz andere Vorstellung vom descensus zu Grunde als in v. 17 ff.; denn hier ist der Gottessohn heruntergestiegen, ist dem Tode Essig und Bitterkeit geworden (Harris übersetzt v. 17, um der evangelischen Erzählung willen: „I had gall and bitterness“, wodurch alles verwirrt wird), hat Hölle und Tod „schlaff gemacht“ (in v. 18 ist natürlich „machte ich schlaff“ zu lesen, und unter „Füßen und Haupt“ ist wohl die Hölle und der Tod zu verstehen) und seine Toten herausgeführt; dort aber waren Hölle und Tod so barmherzig, den Sänger zurückkehren zu lassen (Harris übersetzt v. 15: „sheol was made miserable“, was den Sinn in sein Gegenteil wendet; „und viele mit mir“ v. 16 ist vielleicht ein Zusatz des christlichen Bearbeiters, nach Matth. 27, 52 ff.; es paßt gar nicht in den Zusammenhang). Die Bruchstelle liegt also zwischen v. 16 u. 17. Von v. 17 bis zum Schluß ist alles christlich, ganz verständlich und bedarf keiner näheren Erklärung. Die Ausführung ist würdig und schön und namentlich der Schluß von unerwarteter Größe (zu „sie sind freie Männer“ vgl. Ode 10, 3). Die Schwierigkeit der Ode liegt also in den Versen 4―16. Sie enthalten in den Versen 13―16 einen uneigentlichen descensus des jüdischen Sängers, der den Christen veranlaßt hat, den descensus Jesu Christi daran zuheften. Aber die Verse 4―16 sind schwerlich einheitlich (wie abgerissen ist V. 7! wie unerwartet kommt „das Joch der Liebe“ und „die, welche an mich glauben“, und wie störend tritt dann v. 13―16 ein!). Sie sind, so wie sie lauten, ganz rätselhaft und ganz unverständlich. Der compilatorische Charakter dieser Ode ist ebenso deutlich wie der der vorhergehenden Ode.
