Vierundfünfzigstes Kapitel Die Kenntnis der Engel. Überleitung.
„Und in der Hülle Deiner Flügel will ich frohlocken.“ (Ps. 62.) Was umhüllt den Menschen von allen Seiten? Beweglichkeit, Veränderung. Alle Kreaturen, die wir sehen, rufen uns zu: „Schaue uns; wir gehen vorüber.“ Und wir selber schauen und gehen vorüber. Was wir gestern sahen, sehen wir heute nicht mehr. Aber wenn wir den Blick des Geistes diese Hülle durchdringen lassen, wenn wir nicht fortgerissen werden von den wogenden Fluten des Vergänglichen, so finden wir unter dem Vergänglichen selber alsbald wunderbar kräftige Flügel, welche uns emportragen zum Ewigen. Mitten in allen diesen Veränderungen in ihrer Gesamtheit und mitten in jeder einzelnen besteht etwas, was Festigkeit und Dauer giebt. Bestimmte Gesetze regeln das Ganze in seiner wechselvollen Entwicklung; und jede Entwicklung für sich setzt wieder etwas in sich selbst als Subjekt voraus, was sie vom Anfange bis zum Ende trägt. Kann dieses Feste, Dauernde vom wechselnden Stoffe kommen. Das ist unmöglich. Die moderne Naturwissenschaft beweist handgreiflich sozusagen und sie rechnet sich dies mit Recht zu hohem Ruhme an, wie alles in der Welt in Bewegung ist; wie ohne Halt aus dem einen das andere wird; wie bei dem beständigen Wechsel nichts in der thatsächlichen Wirklichkeit dasselbe bleibt. Der Weise hatte schon gesagt: „Es strömen zum Meere die Flüsse, damit sie von da wieder ausfließen.“ Was Quell für die Beweglichkeit, für beständiges Anderswerden ist, dies kann nicht das Princip des Bleibenden sein. Noch mehr! Verführt durch ihre glänzenden Experimente will die moderne Wissenschaft immer weiter in der Zerlegung des Stoffes vordringen. Sie möchte ein einziges Grundelement gern annehmen, das sich dann zu allem Anderen entwickelt hätte. Und was bestätigt sie damit? Was der Engel der Schule sagt. Die moderne Wissenschaft findet, je weiter sie vordringt, im Zerlegen des Stoffes in seine Elemente immer mehr Schwäche, immer allgemeinere Ohnmacht, immer mehr Möglichkeit, Alles zu werden. Die reinsten Elemente, welche sie dargestellt, entbehren zuletzt aller bestimmten Eigenschaften, die zum Wirken und somit zu selbständigem Wirklichein befähigen könnten. Hörte sie auf die Stimme der Vernunft, so würde sie konsequent weiter gehen und sagen mit Thomas: Der Stoff an sich ist nichts als Möglichkeit, etwas zu werden; und zwar Möglichkeit, um alles zu werden. Je tiefer die Instrumente in den Stoff eindringen, desto mehr zeigen sie wie endlos allgemeines, in nichts beschränktes Vermögen für das Sein die Natur des Stoffes sein muß; sie können diese Wahrheit selber freilich niemals für die Sinne darstellen, denn eine reine Möglichkeit kann den Augen des Leibes nie sichtbar und dem Fühlen nie zugänglich werden. Wie kann aber von dem, was nur etwas zu werden vermag, und was dieser seiner Natur nach immer und in jeder Lage nur wieder etwas Anderes zu werden vermag, also immer fließen, immer Änderung will; wie kann von da das Bleiben, das Feste, die Dauer kommen? Und doch ist selbst dieses ewige Werden nicht möglich, ohne daß zugleich im geringsten Werden selber eine Grundlage existiert, welche den Anfang und das Ende trägt. Der Maler malt das schäumende Meer, wie es gleich einem Riesen sich aufbäumt und in maßloßer Wut die es begrenzenden Ufer schlägt; nicht, weil da Beweglichkeit im höchsten Grade vorherrscht, sondern weil gleichsam als Träger all dieser wilden Bewegung ihm aus den Wogen heraus immer die gleiche furchtbare Majestät der Naturgewalt entgegenschaut. Und er malt nicht die ruhig lachende Flur, weil es da fortwährend keimt und sproßt, sondern weil ihm gleichsam der holdeste Friede daraus inmitten aller Veränderung entgegenlacht. Diese Eindrücke erzeugt der Maler nicht in sich selbst. Es ist keine Einbildung von ihm, daß der Löwe wie ein König in der Wüste dasteht und daß der Adler der Beherrscher der Lüfte ist. Aus der Natur selber tritt das in seinen Geist. Und so trat es in den Geist des Menschen vor Jahrhunderten und vor Jahrtausenden ganz in derselben Weise. Es liegt da tief im Stoffe selber der Halt, welcher den stets wechselnden Erscheinungen und Bewegungen ihren eigentümlichen Charakter anweist und der in unserem Geiste dann zu Flügeln wird, die uns emportragen weit über den Stoff hinaus. Alle einzelnen Erscheinungen und Entwicklungen im Menschen tragen immerdar das Gepräge des Menschlichen; denn im Menschen selber findet sich die Natur als Vermögen, die einzelnen Thätigkeiten zu menschlichen zu machen. Jeder Gedanke, der so ganz unmerkbar flüchtig dem anderen folgt, trägt den Charakter der Vernunft; jeder Blick des Auges, mag er auch immerdar vergehen, bleibt immerbar dem Auge zugehörig. Der Fuß steht, die Hand arbeitet, die Zunge spricht. Alles das geht als Wirklichkeit vorüber wie das Wasser ins Meer fließt. Aber all diese wechselnde Wirklichkeit ist nur die Hülle für die Flügel des Geistes. Unter dieser Hülle finden sich die treibenden Vermögen und Fähigkeiten, die da nie in ihrem Charakter wechseln. Kann der Stoff die Ursache sein für dieses Beständige? Nein; er fließt ohne Aufhören! Ist es unsere Seele? Diese steht unter dem Einflüsse des äußeren Wechsels sowohl wie des bestimmten Charakters ihrer Natur und ihrer Fähigkeiten. Ist es unmittelbar Gott selber? Das kann auch nicht sein. Er giebt wohl die Natur und den einmal feststehenden Charakter der kreatürlichen Fähigkeiten. Er ist aber in seinem Wirken der Veränderung nicht unterworfen. Hier jedoch wird nach der unmittelbaren Ursache dessen gefragt, was fest ist inmitten des Wechsels und so mit dem Wechsel selber aufhört, einzuwirken. Gottes Einwirken ist immer derselben Art. Er wirkt das Sein und insoweit etwas Sein hat; nicht bloß im allgemeinen, sondern soweit etwas Sein hat bis in die einzelnsten Einzelheiten. Soweit der einzelne Blick Sein hat, das einzelne Hören Sein hat, der Fuß Sein hat, die Idee, der Willensakt Sein hat; soweit wirkt immerdar, in unveränderlicher Weise derjenige, welcher das Sein ist und deshalb trägt und ermöglicht Er alles Wirken; gleichwie im „Zeus“ des Phidias alles, soweit es zum Ausdrucke der Idee dient bis ins Einzelnste hinein vom Künstler kommt, der die Kunstform in sich hat. Aber mitten im Wechsel der wirklichen Dinge ist das eine Vermögen so, daß es nicht das andere ist. Das Auge ist so Auge, daß es nicht Ohr ist. Es beginnt somit erst dann die Wirksamkeit des einen, wenn die des anderen nicht mehr ist. Der Mensch ist so Mensch, daß er nicht Tier ist. Es besteht im Bereiche des Vermögens selber eine Festigkeit, ein Bleiben, was nicht vom Stoffe kommen kann, insoweit es der Wirklichkeit das Gepräge der Beständigkeit aufdrückt; denn vom Stoffe kommt das „immer etwas Anderes werden“; — das aber auch nicht von Gott unmittelbar kommen kann, denn es zeigt auf eine beschränkte Ursächlichkeit, die jetzt wirkt und dann wieder nicht wirkt oder anders wirkt. Die Wissenschaft würde ihre Trauerkleider ablegen, mit denen heute Zweifel und Widersprüche sie umgeben; einherschreiten würde sie wieder „in ihren Festgewändern“, wenn man so recht getreu den Grundsätzen des Engels der Schule folgen wollte. Die geistigen bewegenden Kräfte, die in keinem stofflichen Substrate wirkliches Sein haben; sie sind notwendig für die Erklärung der stofflichen Entwicklung. Thomas giebt ihnen den gebührenden Ehrenplatz. Der Körper kann nichts in der Wirklichkeit thun; er kann sich gar nicht einmal äußern, ohne daß er in einem Orte ist. Denn jeder Körper muß einen Umfang, der Umfang eine Figur haben; und die Figur bedingt den Ort. Kann er sich aber selber den Ort geben? Unmöglich; er kann ja gar nicht sich äußern ohne an einen Ort gebunden zu sein. Der Ort also ist die Voraussetzung für all sein etwaiges Thätigsein. Giebt ihm Gott unmittelbar seinen Ort? Dann wäre Gott der Zeit unterworfen, er wäre dem Wechsel, der Bewegung unterworfen; denn der Ort eines Körpers wechselt unaufhörlich, jetzt ist der letztere da und jetzt ist er dort. Gott aber ist über alle Zeit; sein Wirken ist ebenso durchaus erhaben über die Zeit. Er ist nicht beschränkt, daß Er jetzt an dieser Stelle so wirkte, daß Er an einer anderen nicht oder das Gegenteil wirkte. Gott mißt allem im Nun seiner Ewigkeit das Sein zu: der Substanz, den Fähigkeiten, allen Akten; — Er ist demnach die tiefste Grundlage für jede veränderte Thätigkeit. Aber Er ist nicht die unmittelbare Ursache davon, daß etwas beschränkterweise wirkt. „Es ist nicht möglich,“ sagte Thomas, „daß etwas eine ganze Zeit ruht und dann im letzten Augenblicke auf einen anderen Ort seine wirkende Kraft richte und danach in einem anderen Orte sei.“ Gott aber wirkt allein im Augenblicke, im Nun der Ewigkeit, ohne Zeit. Er also kann nicht die unmittelbare Ursache davon sein, daß der Körper in einem bestimmten Orte so ist, daß er nicht in einem anderen ist; und daß er von Ort zu Ort sich nach einer bleibenden Regel bewegt. „Der Körper ist im Orte, so daß er vom Orte eingeschlossen ist; der Engel aber macht durch seine einwirkende Kraft, daß der Körper am bestimmten beschränkten Orte sich findet.“ Wie ein Herrscher ist der Engel im Raume gegenüber der Körperwelt. „Wie er will“ wirkt er den Ort für einen Körper bald so, daß er den Zwischenorten folgt, bald so, daß er sie übergeht secundum determinationem suae voluntatis. Das Bild dieser geistigen Kraft, welche tief auf den Stoff und dessen Wechsel einwirkt, schaut dem Künstler entgegen aus der Natur und wirkt in ihm sein Gegenbild. Das Bild der geistigen Kraft drückt den Vermögen, soweit sie in Verbindung mit der wechselnden Wirklichkeit stehen, seine Wirkung auf; — und Festigkeit fließt in den Stoff sowohl in seiner Gesamtentwicklung, als auch in jeder einzelnen beschränkten Äußerung und Thätigkeit; je nach dem Grade der geistigen Kraft, die in ihrer Substanz fern vom Stoffe eben deshalb auf ihn ungehindert einwirken kann. „In diesem Bilde geht“ der Stoff als Subjekt beschränkten Seins „vorüber“. Und wohin tragen diese geistigen Kräfte das beschauliche Auge? Immer zu Göttlichem. In velamento alarum tuarum sperabo. Das sind die Flügel, welche, außen vom Stoffe umhüllt, innen, der Vernunft sich offenbaren. Sie zeigen auf Gott, diese geistigen Kräfte, auf Jenen, der ihnen sein heiliges Ebenbild je nach einem verschiedenen Grade eingeprägt hat; der ihnen all ihre Kraft verliehen. Sein Wille ist ihr Wille. Wie Gehilfen arbeiten sie am Kunstwerke der Schöpfung; nicht wie Gehilfen, die Gott gebrauchte, sondern die er im Übermaße seiner Güte zu Teilnehmern macht an seiner Güte. Im Bauwerke arbeiten Tischler, Schlosser, Maurer, Maler, Bildhauer etc. Aber der eine arbeitet so, daß er nicht die Arbeit des anderen macht; der Tischler ist nicht Schlosser. Was aber alle zusammen am Bauwerke im einzelnen und im ganzen schaffen, so daß das Bauwerk entsteht; — das ist alles bis ins Einzelnste hinein dem Baumeister geschuldet, seinem Plane und seiner ausführenden Kraft. Das Einzelne ist aber nur, soweit es zum Ganzen gehört; also ist da bis ins Einzelnste der Baumeister die Ursache. So etwa ist Gott der Herr in allem und durch alles hindurch über allem und unter allem. Die Engel aber sind seine Gehilfen. Und wir arme Menschen, in denen auch etwas von Engelnatur liegt, wir können den Engeln ähnlich sein im Einwirken auf den Stoff. Erhaben können wir sein über Zeit und Ort, so daß wir dem Stoffe Zeit und Ort je nach unserem Willen bemessen, nicht aber von Zeit und Ort beherrscht werden. Wollen wir aber das, dann folgen wir dem Winke der heiligen Engel. Wie mit Windesflügeln werden sie uns vom Stoffe hinauftragen zu ihrem und zu unserem Gotte. „Seine Engel machte Er zu Geistern;“ „in der Hülle dieser Flügel“ werden wir hoffen. Denn es sind doch nur Flügel der göttlichen Güte; ihr gehören sie; sie hat selbe geschaffen und leitet ihre Wirksamkeit. Nicht mehr „im Bilde“ der geistigen Kräfte, der Engel, werden wir vorübergehen, wie der Rest des Stofflichen; sondern „im Bilde“ des Ewigen selber wird unsere Wirksamkeit sein. Sein Bilden werden tragen unsere wechselnden Gedanken; sein Bild wird unsere wechselnden Willensakte beherrschen. Fest, in Ewigkeit fest werden sie sein in Gott, wenn auch vergänglich in uns. „Mit seinen Schultern wird er uns umschatten; und unter seinen Flügeln werden wir hoffen;“ „in seinem Bilde werden wir vorübergehen.“ Wir behandeln nun zuerst, nachdem wir die Substanz des Engels betrachtet haben, seine Erkenntniskraft; dann seine Erkenntnismittel; ferner seine Erkenntnisgegenstände; und endlich seine Erkenntnisweise.
