9.
Während er nun bei der Besorgung des Hauswesens sich gar sehr auszeichnet, wird ihm von der Frau des Herrn aus zügelloser Liebe nachgestellt. Durch die Wohlgestalt des Jünglings in rasende Liebe versetzt und von unbändiger Leidenschaft ergriffen, verfolgte sie ihn mit ihren Liebesanträgen, während er ihr kräftig widerstand und bei seiner angeborenen und durch Übung in ihm befestigten Ehrbarkeit und Sittsamkeit sie sich durchaus nicht nahe kommen lassen wollte. Als sie aber in ihrer zu voller Flamme gesteigerten sündhaften Begierde es immer wieder versuchte und immer das. Ziel verfehlte, gebrauchte sie in ihrer leidenschaftlichen Erregung schliesslich Gewalt, fasste ihn kräftig an seinem Gewande und zog ihn mit starkem Ruck an ihr Lager, da die Leidenschaft, die auch die Schwächsten anzuspannen pflegt, ihr grössere Stärke verlieh. Er aber wurde doch Herr über die schlimme Lage und rief ihr die edlen und seiner Abkunft würdigen Worte zu: „Wozu brauchst du Gewalt? Ganz besondere Sitten und Gebräuche haben wir Abkömmlinge der Hebräer. Den andern ist es erlaubt nach dem vierzehnten Lebensjahre Buhlerinnen, Strassendirnen und andere, die um Lohn ihren Leib feilbieten, ohne jegliche Furcht zu gebrauchen, bei uns aber steht es einer Hetäre nicht einmal frei zu leben (5 Mos. 23,18), Tod ist als Strafe festgesetzt für die, die solches Gewerbe ausübt. Vor der gesetzlichen ehelichen Vereinigung kennen wir den Umgang mit einem andern Weibe nicht, sondern rein kommen wir bei Abschluss der Ehe zu reinen Jungfrauen und setzen uns als Ziel nicht die Wollust, sondern die Erzeugung legitimer Kinder. Nachdem ich bis zu diesem Tage rein geblieben bin, werde ich nicht mit Ehebruch, dem grössten aller Vergehen, zu sündigen anfangen; und selbst wenn ich sonst den Trieben der Jugendkraft nachgegeben und in Nachahmung der Schwelgerei der Eingeborenen ausschweifend gelebt hätte, dürfte ich doch nicht nach Vereinigung mit der Gefährtin eines andern verlangen. Wo gibt es Menschen, die solchen Frevel nicht für todeswürdig halten? In andern Dingen gewohnt verschiedener Meinung zu sein, stimmen allein darin alle überall ganz überein, alle sind der Ansicht, dass ein solches Verbrechen mehrfachen Tod verdient, und geben die dabei Ergriffenen ohne richterliches Urteil denen preis, die sie ertappt haben. Du aber gehst noch weiter und mutest mir ein dreifaches Verbrechen zu, du heissest mich nicht nur Ehebruch treiben, sondern auch die Herrin und das Weib des Herrn schänden; bin ich etwa um deswillen in euer Haus gekommen, um unter Vernachlässigung der Dienste, die ein Diener leisten muss, mich dem Trunke zu ergeben, der Erwartungen des Herrn zu spotten und seine Ehe, sein Haus, seine Verwandtschaft zu schänden? Im Gegenteil, nicht nur als Herrn, sondern auch als Wohltäter ihn zu ehren fühle ich mich verpflichtet. All sein Eigentum hat er mir anvertraut, nichts, weder Kleines noch Grosses, hat er davon ausgenommen ausser dir, seinem Weibe. Und diese Güte soll ich ihm durch das vergelten, wozu du mich aufforderst? Ein schönes Geschenk fürwahr würde ich ihm da als Gegenleistung geben, recht passend zu den vorausgegangenen Gnadenbeweisen. Der Herr hat mich, den Gefangenen und Fremden, durch seine Wohltaten, soweit es an ihm lag, zu einem freien Bürgersmann gemacht, ich aber, der Sklave, soll dem Herrn wie einem Fremdling und Gefangenen begegnen? Mit welchen Gefühlen kann ich eine solche Schandtat begehen? Mit welchen Augen werde ich gefühlloses Eisen ihn dann ansehen? Das sich regende Gewissen wird mich ihm nicht gerade ins Auge blicken lassen, selbst wenn ich die Tat verheimlichen könnte; das werde ich aber keinesfalls können, denn es gibt zahlreiche Zeugen der heimlichen Tat, die nicht schweigen dürfen. Ich will nicht davon reden, dass, wenn auch kein anderer es merkt oder, obwohl er es merkt, es nicht aussagt, um so mehr ich selbst mein eigener Angeber sein werde, durch die Gesichtsfarbe, den Blick, die Stimme, weil ich, wie ich schon vorhin sagte, von dem Gewissen gefoltert werde. Gesetzt aber, dass niemand es aussagen wird, müssen wir nicht die strafende Gerechtigkeit, die Beisitzerin Gottes und Aufseherin über alles Tun, fürchten und scheuen?"
