14.
Der Staatsmann weiss nun zwar in Wirklichkeit sehr wohl, dass das Volk despotische Macht hat, er wird aber nicht zugeben, dass er Sklave ist, er wird sich vielmehr für einen freien Mann halten, , wie es ihm im Herzen gefällt. Darum wird er freimütig sprechen: „Volksschmeichler zu sein habe ich weder gelernt noch werde ich mir je Mühe geben es zu werden; nachdem ich mit der Leitung des Staates und der Fürsorge für ihn betraut bin, werde ich vielmehr wie ein guter Vormund oder wie ein liebender Vater in Reinheit und Lauterkeit und ohne Heuchelei, die mir verhasst ist, < meines Amtes walten >. In dieser Gesinnung werde ich stets verharren, ich werde nichts verbergen und verheimlichen nach Diebesart, sondern gleichsam im Sonnenlicht mein Gewissen leuchten lassen; denn die Wahrheit ist Licht; und ich werde nichts von allem fürchten, womit man mich bedroht, auch nicht den Tod, denn schlimmer als der Tod ist für mich die Heuchelei. Weshalb soll ich diese anwenden? Wenn auch das Volk der Herr ist, so bin ich doch kein Sklave, ich bin ein Adliger, wie irgend einer, und habe das Verlangen, in das grösste und beste Staatswesen, in das Weltall, als Bürger aufgenommen zu werden. Denn wenn weder Geschenke noch Zureden, weder Ehrgeiz noch Herrschbegierde, weder Einbildung noch Ruhmsucht, weder Zügellosigkeit noch Feigheit, weder Ungerechtigkeit noch irgend eine andere Leidenschaft oder Untugend mich verleiten, wessen Tyrannei soll ich da noch fürchten? Etwa die von Menschen? Diese können sich höchstens die Macht über den Körper zuschreiben, nicht über mich; denn ich nenne mich nach dem besseren Teil, dem Geiste in mir, nach dem zu leben ich entschlossen bin, ohne viel Rücksicht auf den sterblichen Leib zu nehmen; wenn dieser, der nach Art einer Muschel mich umgibt, manche Unbill erleidet, so werde ich das, wenn er nur von den schlimmen Herren und Herrinnen im Innern frei ist, nicht übel empfinden, nachdem ich dem schlimmsten Zwange mich entzogen habe. Wenn also zu richten ist, werde ich Recht sprechen, weder zu Gunsten eines Reichen wegen seines Reichtums, noch zu Gunsten eines Armen aus Mitleid über sein Missgeschick; ich werde alle Rücksicht auf Ansehen und Stellung der Abzuurteilenden Reiseite lassen und ohne Arglist das Urteil sprechen, wie es mir gerecht scheinen wird. Wenn ich im Rate sitze, werde ich nur gemeinnützige Anträge einbringen, auch wenn sie nicht gefallen sollten; und in der Volksversammlung werde ich die Schmeichelreden anderen überlassen und nur heilsame und nützliche Reden halten, werde tadeln, warnen, zur Besonnenheit ermahnen, nicht in unsinniger und verkehrter Anmassung, sondern mit nüchterner Freimütigkeit. Wenn einer an solchen Ermahnungen zur Besserung keinen Gefallen findet, so mag er auch Eltern und Vormünder und Lehrer und alle Pfleger tadeln, dass sie ihre leiblichen Kinder und Verwaiste und Schüler schelten und bisweilen sogar schlagen; und doch darf man dies gewiss nicht als Beschimpfung und Misshandlung bezeichnen, sondern muss es im Gegenteil Liebe und Zuneigung nennen. Es wäre auch ganz unwürdig, wenn ich, der Staatsmann, dem das Wohl des ganzen Volkes anvertraut ist, in der Erwägung des Nützlichen hinter einem, der die ärztliche Kunst ausübt, zurückbleiben würde. Denn dieser kümmert sich nicht im geringsten um das hohe Ansehen des von ihm Behandelten, das er wegen seines Wohlstandes geniesst, weder darum dass er adlig oder sehr reich ist, noch dass er der berühmteste König oder Herrscher seiner Zeit ist; er hat nur das eine Ziel im Auge, ihm nach Kräften zu helfen, und wenn es nötig ist zu schneiden oder zu brennen, so brennt und schneidet er den Herrn und Gebieter, er, der Untertan und Diener heisst. Ich aber, der ich nicht einen Mann, sondern einen ganzen Staat (zur Behandlung) übernommen habe, der an schlimmeren Krankheiten leidet, die die angeborenen Begierden verursachen, was muss ich tun? Das, was allen förderlich sein könnte, preisgeben und diesem oder jenem beliebigen niedrige und sklavische Schmeicheleien ins Ohr sagen? Lieber würde ich den Tod vorziehen als in gefälligen Reden die Wahrheit verbergen und das Heilsame ausser acht lassen — wie der tragische Dichter sagt (Verse des Euripides, Vers 1 aus den Phönissen (521), V. 2—5 aus einem verlorenen Satyrdrama (Fragm. 687).) —:
„Mag Feuer kommen dazu, mag kommen auch das Schwert.
Zünd an, verbrenne mein Fleisch und trinke mein dunkles Blut
Und sättige dich; denn eher werden die Sterne hinab
Zur Erde kommen und eher wird zum Äther hinauf
Die Erde steigen, als Schmeichelrede von mir dich trifft".
Einen Staatsmann also, der von so mannhafter Gesinnung und so frei von allen Leidenschaften ist, von Wollust, Furcht, Trauer und Begierde, verträgt der herrschende Pöbel nicht; er ergreift den wohlgesinnten Freund wie einen Feind und züchtigt ihn, bestraft aber nicht sowohl ihn als sich mit der grössten Strafe, der Unbildung, die die Ursache ist, dass er nicht gelernt hat sich befehlen zu lassen, die schönste und nützlichste Eigenschaft im Leben, durch die man erst die Fähigkeit erlangt zu befehlen.