20.
Als der König dies vernahm, gab er Auftrag, schleunigst den Jüngling herbeizurufen. Man lässt ihn also scheren — denn Kopf- und Barthaare waren ihm während der Gefangenschaft lang gewachsen —, gibt ihm ein reines Gewand statt des schmutzigen, lässt ihn auch im übrigen sich säubern und führt ihn zum Könige. Dieser erkennt schon an seinem Antlitz den freien und edelgeborenen Mann in ihm — denn gewisse Merkmale zeigen sich im Äusseren solcher, allerdings nicht sichtbar für alle, sondern nur für die, deren geistiges Auge scharf blickt —, und er spricht: „Mein Gefühl sagt mir, dass meine Träume nicht mehr lange im Dunkel verhüllt bleiben werden; denn dieser Jüngling zeigt das Kennzeichen der Weisheit, er. wird die Wahrheit enthüllen, wie das Licht das Dunkel vertreibt, wird er mit seiner Einsicht die Unwissenheit unserer Weisen zerstreuen". Dann erzählte er die Träume. Joseph aber hatte nicht die geringste Furcht vor der Würde des Sprechenden, er redete wie ein König zu seinem Untergebenen, nicht wie ein Untergebener zum Könige, freimütig mit Ehrerbietung, und sagte: „Was Gott an diesem Lande tun will, hat er dir vorausverkündet. Glaube nicht, dass die beiden Erscheinungen zwei Träume sind; es ist nur ein Traum, die Verdoppelung ist aber nicht überflüssig, sondern dient zum Beweise stärkerer Glaubwürdigkeit. Die sieben fetten Kühe nämlich und die fruchtbaren und gut gediehenen sieben Ähren bedeuten sieben Jahre der Fülle und Fruchtbarkeit, und die nachher gekommenen sieben mageren und hässlichen Kühe und die verdorbenen und leeren sieben Ähren bedeuten sieben andere Jahre der Hungersnot und der Unfruchtbarkeit. Kommen wird zuerst ein Zeitraum von sieben Jahren mit überaus grosser Fruchtbarkeit, wo alljährlich der Fluss mit seinen Fluten die Fluren bewässert und die Felder reichen Ertrag haben wie nie zuvor; kommen wird aber danach hinwiederum ein Zeitraum von sieben Jahren, der im Gegenteil schwere Not und Mangel an den notwendigen Bedürfnissen mit sich bringt, da der Fluss nicht austritt und das Land nicht befruchtet wird, so dass die frühere Fruchtbarkeit vergessen und jeder Rest des alten Überflusses aufgezehrt werden wird. Das ist die Deutung. Es tönt aber in mir die göttliche Stimme, die auch die Heilmittel, wie bei einer Krankheit, an die Hand gibt; die schwerste Krankheit für Staaten und Länder ist ja die Hungersnot, die man möglichst schwächen muss, damit sie nicht ihre volle Stärke gewinne und die Bewohner aufzehre. Wie nun kann sie geschwächt werden? Was von der Frucht der sieben Jahre, die ertragreich sind, nach hinreichender Ernährung der Volksmassen übrig bleibt —· es mag etwa der fünfte Teil sein —, muss man in Stadt und Land aufspeichern, nicht so, dass man die geernteten Früchte von weit her (an einen Ort) schafft, sondern sie an den Orten, wo sie sind, aufbewahrt zur Beruhigung der Bewohner. Einsammeln soll man aber das Getreide mit den Garben und es nicht sogleich ausdreschen und säubern, aus vier Gründen: erstens weil es, wenn es diese Schutzhülle hat, sich länger hält und nicht verdirbt; zweitens weil alljährlich dann die Erinnerung an den Überfluss aufgefrischt wird, wenn man drischt und worfelt — denn die Erinnerung (upomnhsij nach Mangeys Konjektur für mimhsij.) an den wirklich vorhandenen Vorrat soll zum zweiten Male Freude bereiten —; drittens um die Berechnung zu verhindern, da die Frucht in den Ähren und Garben in ihrem Umfange unbestimmt bleibt, damit nämlich die Bewohner nicht vorzeitig den Mut sinken lassen beim Aufzehren des berechneten Vorrats, sondern durch Gemütsruhe, die eine bessere Nahrung ist als die Speisen — denn gute Nahrung ist immer die Hoffnung —, sich das schwere Leid der Hungersnot erleichtern; viertens weil auch für das Zuchtvieh Futter beschafft wird, wenn Spreu und Hacheln bei der (jährlichen) Säuberung der Erdfrucht ausgeschieden werden. Als Aufseher darüber muss man aber einen verständigen und einsichtigen und in allem erprobten Mann wählen, der imstande wäre in neidloser und unantastbarer Weise alles Gesagte einzurichten, ohne dem Volke die zukünftige Hungersnot bemerkbar zu machen; denn hart wäre es, wenn die Menschen schon vorher im Herzen darunter leiden und in Hoffnungslosigkeit verfallen sollten. Wenn aber einer nach der Ursache forscht, soll man sagen, es sei notwendig, wie im Frieden für die Kriegsrüstungen, so in Zeiten des Überflusses für die Zeiten der Not zu sorgen; es sei aber unbestimmt, wann Kriege und Hungersnöte und überhaupt unerwünschte Verhältnisse eintreten; für solche müsse man gerüstet sein und dürfe nicht erst nach ihrem Eintritt Abhilfe suchen, wenn es nichts mehr nützt".
