39.
Aber damit wie mit allem, was früher geschah, wurden sie nur auf die Probe gestellt, denn der Landesverweser wollte erforschen, wie weit ihre Liebe zu seinem leiblichen Bruder gehe; er fürchtete nämlich, dass sie eine natürliche Abneigung gegen ihn haben, wie gewöhnlich die Kinder der Stiefmütter gegen die Familie der andern gleichberechtigten Frau. Deshalb hatte er sie auch wie Kundschafter mit Beschuldigungen empfangen und über ihre Herkunft befragt, um unter diesem Vorwande zu erfahren, ob sein Bruder noch lebe und nicht etwa hinterlistiger Weise getötet sei; deshalb hatte er auch einen zurückbehalten und die andern abziehen lassen, nachdem sie versprochen hatten, den Jüngsten ihm zuzuführen, den zu sehen er heftiges Ver-langen trug, wie er auch von der schweren und drückenden Sorge um ihn befreit sein wollte. Nachdem dann der Bruder erschienen war, und er ihn mit eigenen Augen gesehen hatte, wurde er ein wenig diese Sorge los; er lud sie darauf zum Gastmahl, bewirtete sie und liess dem leiblichen Bruder bessere Stücke von den Speisen reichen; dabei sah er auf jeden einzelnen und suchte aus ihren Mienen zu erforschen, ob versteckter Neid bei ihnen vorhanden sei. Und wiewohl er sie heiter sah und erfreut über die Ehrung des Jüngsten, also schon durch zwei Zeugnisse den Beweis erhalten hatte, dass keine heimliche Feindschaft bestehe, hatte er doch noch eine dritte Prüfung erdacht und die Anklage gegen den Jüngsten wegen vermeintlicher Entwendung des Bechers veranlasst; denn hier musste der klarste Beweis geliefert werden für die Gesinnung eines jeden und für ihr verwandtschaftliches Verhältnis zu dem fälschlich angeklagten Bruder (Vgl. Joseph. Altert. II § 125: „er tat dies, weil er die Brüder auf die Probe stellen wollte, ob sie dem Benjamin, wenn er des Diebstahls beschuldigt würde, zur Seite stehen oder ihn verlassen und im Bewusstsein ihrer eigenen Unschuld zu dem Vater zurückkehren werden".). Aus alledem gewann er jetzt die Überzeugung, dass das mütterliche Haus (Das Haus (die Familie) der Rahel, dem Joseph und Benjamin angehörten.) durch keinen Zwist und keine Nachstellungen bedroht sei; und zugleich kam er über das, was ihm selbst widerfahren war, zu dem einleuchtenden Schluss, dass er es nicht sowohl durch die feindlichen Anschläge der Brüder zu erdulden hatte als nach dem Ratschluss der Vorsehung Gottes, der weit blickt und die Zukunft nicht minder als die Gegenwart im Auge hat.
