6.
Dich aber frage ich, woher du die Vermessenheit nimmst, mir diese Schriftstelle (Mt. 5,17) entgegenzuhalten, oder warum du denkst, dass sich etwas nur gegen mich richtet, was doch offensichtlich genauso gegen dich spricht? Wenn es nicht Sache Christi ist, das Gesetz und die Propheten aufzuheben, dann ist es gewiss auch nicht Sache der Christen. Warum also hebt ihr das alles auf? Rückt ihr etwa allmählich mit dem Geständnis heraus, dass ihr gar keine Christen seid? Warum entweiht ihr mit jeder Art von Arbeit jenen Tag der Sabbatruhe, der dem Gesetz und allen Propheten hochheilig ist (cf. Exod. 20,10; 23,12; lev. 23,3), an dem nach ihrem Zeugnis (cf. Gen. 2,2) auch Gott selber, der Schöpfer der Welt, ruhte, und fürchtet euch weder vor der Strafe des Todes, die Gott gegen die Sabbatschänder verhängt hat (cf. Num. 15,35), noch vor der Schmach der Verfluchung? Warum bewahrt ihr eure Geschlechtsteile vor dem entwürdigenden Siegel der Beschneidung, das doch beim Gesetz und bei sämtlichen Propheten, vor allem aber bei Abraham nach seinem denkwürdigen Bund mit Gott (cf. Gen. 17) in hohem Ansehen steht, zumal der Gott der Juden noch ausdrücklich erklärt, dass ein jeder, der nicht mit diesem Schandmal bezeichnet wurde, aus seinem Stammesverband ausgemerzt werden soll (cf. Gen. 17,14)? Warum vernachlässigt ihr auch die vom Gesetz verordneten Opfer, denen sowohl Moses und die Propheten, die unter dem Gesetz standen, als auch Abraham, der durch den Bund mit Gott verpflichtet war, grösste Bedeutung beimassen? Warum befleckt ihr eure Seele auch noch damit, dass ihr unterschiedslos alle Speisen zu euch nehmt, wenn doch Christus, wie ihr glaubt, nicht gekommen ist, all diese Vorschriften aufzuheben, sondern sie zu vollenden? Warum schiebt ihr auch jenes jährlich wiederkehrende Fest der Ungesäuerten Brote achtlos beiseite (cf. Exod. 12,15), ebenso das heilige Ritual der Lammschlachtung, das auszuführen Gesetz und Propheten für alle Zeiten vorschreiben (cf. Exod. 12,4)? Warum schliesslich brecht ihr so leichtfertig mit der Neumondfeier, den rituellen Waschungen, dem Laubhüttenfest und den andern derartigen fleischlichen Weihehandlungen, welche Gesetz und Propheten vorschreiben, wenn doch Christus all das überhaupt nicht zerstört hat? Daher könnte ich wohl mit Fug und Recht behaupten, dass ihr – falls ihr möchtet, dass sich eure Verachtung all diesen Vorschriften gegenüber vernünftig begründen lässt – entweder leugnen müsstet, Jünger Christi zu sein, oder aber endlich zugeben müsstet, dass dieser selbst sie als erster zerstört hat. Wenn ihr dies aber eingestanden habt, müsst ihr konsequenterweise auch zugeben, dass jene Bibelstelle (Mt. 5,17), derzufolge Jesus gesagt haben soll, dass er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vollenden, gefälscht ist, oder aber dass sie einen ganz andern als den von euch angenommenen Sinn enthält.
