8.
Die Prophetien aber hat Christus in der Weise vollendet, dass die Verheissung Gottes in ihm Wirklichkeit geworden ist. Darauf habe ich eben (503,16) hingewiesen mit dem Apostelwort (II Kor. 1,20): Denn was es gibt an Verheissungen Gottes, in ihm ist das Ja. Und ein weiteres Wort des Apostels (Rm. 15,8): Denn das sage ich, Christus ist um der Wahrheit Gottes willen Diener der Beschnittenen geworden, um die Verheissungen an die Väter zu bestätigen. Was immer also bei den Propheten verheissen wurde, sei es unverhüllt, sei es durch Aussagen oder Handlungen, die in Modellbilder gehüllt waren, ist in ihm vollendet worden, der nicht gekommen ist, das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern sie zu vollenden (Mt. 5,17). Eines aber versteht ihr nicht: Wenn bestimmte Handlungen und rituelle Feiern, die modellhaft Zukünftiges ankündigten, heute noch von den Christen vollzogen würden, würde das nichts anderes bedeuten, als dass noch nicht eingetreten ist, was durch jene Modellbilder damals angekündigt wurde. Denn wenn etwas als zukünftig angekündigt wird, ist es entweder noch nicht eingetreten, oder aber, wenn es schon eingetreten ist, ist die Ankündigung überholt oder irreführend. Aus der Tatsache, dass gewisse Dinge, welche den Hebräern durch die Propheten zur Befolgung aufgegeben wurden, von den Christen nicht befolgt werden – woraus ihr schliesst, dass Christus die Propheten nicht vollendet habe – erweist sich also vielmehr, dass er sie in Tat und Wahrheit vollendet hat. Was immer durch all jene Modellbilder prophezeit wurde, ist nämlich so klar zur Vollendung gelangt, dass es gar nicht mehr als Prophetie nutzbar ist. Zu diesem Schluss drängt auch, was der Herr selber sagt (Lk. 16,16): Das Gesetz und die Propheten behielten ihre Aufgabe bis Johannes. Denn das Gesetz, welches uns als Gesetzesübertreter solange in übergrosser Schuld einschloss, bis der Glaube enthüllt wurde, ist zur Gnade geworden durch Jesus Christus, durch den die Gnade übergross wurde (cf. Gal. 3,23; Rm. 5,20). Und so ist durch die Gnade, die frei macht, das zur Vollendung gekommen, was durch den Buchstaben, der befiehlt, nicht vollendet wurde. Und ebenso ist die gesamte im Gesetz enthaltene Prophetie, welche nicht nur durch Worte sondern auch durch modellbildhafte Handlungen die Ankunft des Erretters verhiess, durch Jesus Christus Wirklichkeit geworden. Denn das Gesetz wurde durch Moses überreicht; die Gnade aber und die Wahrheit kamen durch Jesus Christus (Joh. 1,17). Mit seiner Ankunft aber begann schon die Ankündigung des Reichs Gottes; denn das Gesetz und die Propheten behielten ihre Aufgabe bis Johannes (Lk. 16,16), die beim Gesetz darin bestand, die Menschen schuldig werden zu lassen, damit sie das Heil ersehnten, bei den Propheten, den Erretter zu verheissen. Im übrigen weiss jeder, dass nach der Himmelfahrt Christi in der Kirche neue Propheten auftraten. Über sie sagt Paulus (I Kor. 12,28): Und Gott setzte in der Kirche die einen als Apostel ein, andere als Propheten, die dritten als Lehrer, usw. Nicht von diesen ist also die Rede, wenn es heisst (Lk. 16,16): Gesetz und Propheten behielten ihre Aufgabe bis Johannes, sondern von jenen, die Christi Ankunft prophezeiten; nachdem diese Ankunft einmal erfolgt war, konnte sie natürlich nicht weiter prophezeit werden.
