17.
So wie diese Verbformen mussten also auch jene Heilsrituale des früheren Volkes, die ja nun durch ihn erfüllt waren, der nicht gekommen ist, das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern sie zu erfüllen, beiseite gelegt und umgewandelt werden. Dieser Wechsel wurde aber den ersten Christen, die vom Judentum her zum Glauben gelangt waren, ‹nicht aufgebürdet›, bevor sie nicht gegen ihre so tief eingewurzelte Gewohnheit allmählich von seiner Notwendigkeit überzeugt und zu einer vollkommenen Einsicht in seinen Sinn gelangt waren; und da sie ja unter den früheren Bedingungen geboren und erzogen worden waren, liessen es die Apostel zu, dass sie an den von den Vätern übernommenen Riten und Traditionen festhielten, und ermahnten jene, die dieser Mahnung bedurften, sich auf die geistige Langsamkeit und den Charakter jener Menschen einzustellen. Aus Rücksicht auf eben solche Menschen liess ja der Apostel auch den von einer jüdischen Mutter und einem griechischen Vater abstammenden Timotheus beschneiden, in dessen Begleitung er zu ihnen gekommen war (cf. Apg. 16,1), und es war nicht heuchlerische Verstellung sondern kluge Voraussicht, wenn er bei ihnen an dieser Sitte festhielt. Jene Rituale brachten ja den Menschen, die noch unter dem Gesetz geboren und erzogen worden waren, keinen Schaden, obwohl deren Aufgabe, zukünftiges Heilsgeschehen zu versinnbildlichen, bedeutungslos geworden war. Schädlicher wäre es nämlich gewesen, sie bei Menschen als etwas Schädliches zu verbieten, für die sie noch ihre Wichtigkeit haben mussten, da sie ja bereits in diese eingeweiht waren, als Christus, der gekommen war, all jene Prophetien zu erfüllen, auf sie traf. So ergab es sich für die Folgezeit, dass jene, die durch keinerlei Verpflichtung dieser Art gebunden waren, die gleichsam von der gegenüberliegenden Wand her, d.h. von der Vorhaut aus, zu jenem Eckstein, der Christus ist, gelangten (cf. Eph. 2,14. 20), zu nichts von alledem gezwungen wurden, wenn aber jemand wie Timotheus (514. 13) sich den Menschen, die von der Beschneidung her gekommen waren und solchen Heilsritualen weiterhin nachhingen, aus freien Stücken anpassen wollte (cf. 514,11), wurde ihm dies nicht verboten; wenn er allerdings glaubte, dass seine Hoffnung und sein Heil in solchen Werken des Gesetzes begründet sei, wurde er davon abgehalten, da es für ihn das sichere Verderben bedeutet hätte. In diesen Zusammenhang gehört der Satz des Apostels (Gal. 5,2): Hört, was ich, Paulus, euch sage: Wenn ihr euch beschneiden lässt, wird euch Christus nichts nützen, womit er auf den Wunsch jener Antiochener anspielte, sich beschneiden zu lassen, wie es ihnen von irregeleiteten Menschen eingeflüstert worden war, weil sie ohne diese Werke des Gesetzes das Heil nicht erlangen könnten (cf. Apg. 15,1). Da nämlich die Heiden, vor allem dank der Verkündigung des Apostels Paulus, so zum christlichen Glauben gelangen konnten, wie es für sie angemessen war, indem sie mit keiner dieser Ritualvorschriften belastet wurden – erwachsene Menschen würden ja vor so ungewohnten Dingen, wie es vor allem die Beschneidung ist, zurückscheuen und dadurch vom Glauben abgeschreckt, zudem entstände der Eindruck, dass Christus durch jene Mysterien weiterhin als Kommender angekündigt wird, wenn Menschen, die von Geburt her nicht dazu bestimmt waren, mit derartigen Heilsritualen eingeweiht zu werden, auf diese althergebrachte Weise zu Proselyten würden -: da also die Heiden so zum Glauben gelangen konnten, wie es für Menschen aus dem Heidentum angemessen war, da begannen gewisse Personen, die von der Beschneidung her gekommen waren, und nicht verstanden, warum jene Heilsrituale für sie selber weiterhin erlaubt waren, und warum sie den Heiden nicht auferlegt werden mussten, mit Polemiken fleischlicher Art Unruhe in die Kirchengemeinschaft zu bringen, weil sie Anstoss daran nahmen, dass die Heiden, die dem Volk Gottes beitreten wollten, nicht in der üblichen Weise mit der Beschneidung des Fleisches und den übrigen vom Gesetz vorgeschriebenen Ritualen zu Proselyten gemacht wurden. Unter ihnen gab es einige, die besonders deshalb auf die Einhaltung dieser Vorschriften pochten, weil sie die Juden, in deren Mitte sie lebten, fürchteten. Ihnen trat der Apostel Paulus in seinen Schriften immer wieder entgegen; er wies sogar Petrus in einer brüderlichen Schelte zurecht, weil er sich deren Heuchelei angeschlossen hatte (cf. Gal. 2,11 ff.). Nachdem sich dann aber die Apostel versammelt hatten und sich auch bei diesem Treffen die Meinung durchsetzte, dass die Heiden zu derartigen Werken des Gesetzes nicht gezwungen werden dürften (cf. Apg. 15,6 ff.), missfiel es einigen Christen, die von der Beschneidung her kamen, und denen es an Unterscheidungsvermögen mangelte, dass nur jenen weiterhin gestattet sein sollte, sich den Ritualhandlungen des Gesetzes zu unterziehen, welche die Offenbarung des Glaubens erst zu dem Zeitpunkt erreicht hatte, als sie bereits mit ihnen vertraut waren, was natürlich geschah, damit das ganze prophetische Ritual bei denen zur Erfüllung gelangte, die schon vor der Vollendung der Prophetie daran gebunden waren. Wenn es nämlich auch ihnen entzogen worden wäre, hätte dies eher den Eindruck erweckt, dass es verworfen wurde, nicht aber zum Ziel gelangte; wenn es dagegen auch den Heiden auferlegt worden wäre, hätte man glauben können, dass es gar nicht zur Verheissung Christi eingerichtet wurde, oder dass es weiterhin der Verheissung Christi dient. Das erste Volk Gottes hatte daher die Verpflichtung, all jene Vorschriften, die der Verheissung Christi dienten, zu beobachten, bis Christus käme, um Gesetz und Propheten zu vollenden; es war frei in jenem Teil, der erkannte, worauf diese Vorschriften hinwiesen, unfrei in jenem, der das nicht erkannte. Beim späteren Volk aber, das zum Glauben gelangte, als das Kommen, das Leiden und die Auferstehung Christi bereits als vergangenes Geschehen verkündet wurde, wurden jene Menschen, die der Glaube erst erreichte, als sie mit derartigen Ritualen bereits vertraut waren, weder zur weiteren Einhaltung verpflichtet, noch wurde sie ihnen untersagt; jenen andern dagegen, die, völlig unberührt von diesen Ritualen, durch keinerlei Zwänge bezüglich Herkunft, Traditionen und Konventionen eingeengt, zum Glauben gelangt waren, wurde sie gar ausdrücklich untersagt. Durch sie sollte ja allmählich klar werden, dass das ganze Ritual des Gesetzes eingerichtet wurde zur Verheissung Christi, und dass es damit ein Ende haben musste, nachdem dieser gekommen war und diese Verheissungen vollendet hatte. Da nun also diese massvolle, den Umständen angepasste Lösung des Heiligen Geistes, der durch die Apostel wirkte, einigen, die von der Beschneidung her zum Glauben kamen und deren Sinn nicht erkannten, missfiel (515,26), hielten diese starr an ihrer verkehrten Forderung fest, und wollten auch die Heiden zwingen, nach Art der Juden zu leben. Es sind dies die Leute, die Faustus unter der Bezeichnung Symmachianer oder Nazaräer erwähnte (500,2), die bis in unsere Tage, – zwar nur noch in einer winzigen Gruppe, aber bei aller Winzigkeit eben immer noch – weiterexistieren.
