20.
So frage ich denn die Manichäer als erstes, ob jene Gerechten der Frühzeit, Enoch und Seth – denn sie vor allem erwähnt Faustus (498,22) – und all die anderen, die vor Moses, oder gar schon vor Abraham lebten, ihrem Bruder ohne Grund zürnten oder ihn als Dummkopf bezeichneten. Wenn sie nämlich solche Schimpfwörter mieden, haben sie das sicher auch so gelehrt. Wenn sie das aber so gelehrt haben, frage ich, in welcher Hinsicht Christus mit jenem Zusatz (Mt. 5,22): Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt oder ihn als Narr oder als Dummkopf bezeichnet, wird dem Gericht, dem Spruch des Hohen Rates oder der Feuerhölle verfallen sein, ihre Gerechtigkeit und ihre Lehre vollendet hat, da ja schon sie nach diesem Grundsatz lebten und dazu aufriefen, nach diesem Grundsatz zu leben. Oder sollten jene Gerechten nicht gewusst haben, dass man seinen Jähzorn zügeln muss, und dass man seinen Bruder nicht mit leichtfertigen Beschimpfungen reizen darf? Oder wussten sie es zwar, konnten sich aber selber nicht im Zügel halten? Also waren sie der Hölle verfallen! Was soll dann aber ihre Bezeichnung als Gerechte? Du wirst doch nicht zu behaupten wagen, sie seien in ihrer Gerechtigkeit so schlecht mit den damit verbundenen Pflichten vertraut, oder aber so unbeherrscht gewesen, dass diese Gerechtigkeit sie der Hölle verfallen liess. Wie kann man also sagen, dass Christus das Gesetz, nach dem die Gerechten der Vorzeit lebten, mit diesem Zusatz (Mt. 5,22) vollendet habe, wenn es bei ihnen ohne dessen Erfüllung gar keine Gerechtigkeit geben konnte? Oder willst du vielleicht behaupten, dass unbeherrschte Zornausbrüche und eine freche Zunge erst nach dem Kommen Christi zum Unrecht wurden, während vorher Herz und Mund mit solchem Verhalten kein Unrecht begingen, so wie wir das bei manchen zeitgebundenen Einrichtungen antreffen, bei denen etwas verboten sein kann, was vorher erlaubt war, oder etwas nun erlaubt ist, was vorher verboten war? Für eine solche Aussage bist du nun doch nicht töricht genug! Falls du es aber trotzdem behaupten solltest, wirst die Antwort lauten, dass Christus nach dieser Interpretation – derzufolge es bei den Gerechten der Vorzeit nicht ungerecht war, seinen Bruder als Dummkopf zu bezeichnen, Christus nun aber die gleiche Tat als so grosses Unrecht ansah, dass ein jeder, der das sagt, der Hölle anheim fallen wird – nicht gekommen ist, das zu vollenden, was dem alten Gesetz fehlte, sondern ein Gesetz einzuführen, das es vorher noch gar nicht gab. Das Fazit: Du hast noch nicht herausgefunden, welches Gesetz es war, das Christus zur Vollendung brachte, indem er dessen Lücken mit seinen Zusätzen ergänzte.
