23.
Da nämlich die Juden unter Mord nichts anderes verstanden als die körperliche Zerstörung des Menschen, die ihn seines Lebens beraubt, deshalb zeigte der Herr, dass jegliche feindselige Handlung dem Bruder gegenüber, die ihm Schaden zufügen will, den Tatbestand des Mordes erfüllt. Daher sagte auch Johannes (I Joh. 3,15): Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Mörder. Und da die Juden glaubten, nur die unerlaubte körperliche Vereinigung mit einer Frau gelte als Ehebruch, zeigte der Meister, dass bereits das Verlangen danach diesen Tatbestand erfüllt. Desgleichen ist zwar nur der falsche Schwur eine schwere Sünde, nicht schwören dagegen ist genauso wenig Sünde wie ehrlich schwören, doch ist derjenige, der sich das Schwören nicht zur Gewohnheit machte, der Gefahr eines falschen Schwures weniger ausgesetzt als derjenige, der dazu neigt, jede wahre Aussage zu beschwören; und so sah es der Herr lieber, wenn wir ohne eidliche Bekräftigung bei der Wahrheit blieben, als wenn wir uns mit ehrlichen Schwüren der Gefahr eines falschen Schwurs aussetzten. Daher hat auch der Apostel in seinen Reden, von denen uns berichtet wird, niemals geschworen, um nicht, ans dauernde Schwören gewöhnt, unvermerkt in einen Meineid zu schlittern. In seinen Schriften dagegen, wo sich ja sorgfältiger und überlegter formulieren lässt, finden sich mehrere Stellen, in denen er geschworen hat (cf. Rm. 1,9; Phil. 1,8; II Kor. 1,23); und er tat dies, um dem Glauben entgegenzuwirken, dass auch ein ehrlicher Schwur Sünde ist, dagegen klar zu machen, dass die Schwäche des menschlichen Herzens der Gefahr eines Meineids weniger ausgesetzt ist, wenn es nicht schwört. Nachdem wir nun diese Gebote aus der frühen Zeit analysiert haben, sind wir weiter zum Schluss gekommen, dass auch jene Gebote, die Faustus als ausschliesslich mosaisch ansieht, von Christus – entgegen der Ansicht des Faustus (499,6) – nicht aufgehoben wurden.
