31.
Schliesslich – und das behaupte ich nicht aufs Geratewohl – glaube ich nicht, dass jemand in jenen Büchern den Ausdruck Himmelreich gefunden hat, den Christus so häufig verwendet. Zwar heisst es dort (sap. 6,21): Liebt die Weisheit, damit ihr ewig herrschet! Und wenn man dort nicht unverhüllt vom ewigen Leben spräche, würde der Herr auch nicht zu den bösen Juden sagen (Joh. 5,39): Ihr durchforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben haben; gerade sie legen Zeugnis über mich ab. Und ohne Zweifel sprechen weitere Stellen vom ewigen Leben, etwa wenn dort steht (Ps. 117,17): Ich werde nicht sterben, sondern leben und die Taten des Herrn erzählen; oder (Ps. 12,4): Erleuchte meine Augen, damit ich nicht zum Tod entschlafe; oder (sap. 3,1): Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand, und keine Qual kann sie berühren; oder kurz nachher (sap. 3,3-5a): Jene aber sind im Frieden; und wenn sie in den Augen der Menschen Folter erduldet haben, ist ihre Hoffnung doch voll Unsterblichkeit; und wenig nur wurden sie gezüchtigt, doch grosse Wohltaten werden sie empfangen; oder an anderer Stelle (sap. 5,15 f.): Die Gerechten aber werden in Ewigkeit leben, und beim Herrn ist ihr Lohn, und die Sorge um sie ist beim Allerhöchsten; daher werden sie das Reich der Herrlichkeit und die Krone der Schönheit aus der Hand des Herrn empfangen. Diese und viele andere Zeugnisse für das ewige Leben finden sich dort, teils ganz unverhüllt, teils leicht verdunkelt. Sogar über die Auferstehung des Leibes äusserten sich die Propheten. Dieser Frage wegen stiessen ja die Pharisäer sehr heftig mit den Sadduzäern zusammen, da diese nicht daran glaubten. Wir werden darüber anschaulich unterrichtet nicht nur in der Apostelgeschichte (cf. Apg. 23,6 ff.), einer Schrift, die zum Kanon gehört, die aber von den Manichäern nicht anerkannt wird, aus Furcht, in der Frage der Ankunft des wahren Parakleten, den der Herr dort verheissen hat, in die Enge getrieben zu werden, aber auch im Evangelium (cf. Mt. 22,23 ff.), wo die Sadduzäer dem Herrn die Streitfrage um jene Frau vorlegen, welche nacheinander mit sieben Brüder verheiratet war, da einer nach dem andern seinem toten Bruder als Ehegatte nachfolgte, wessen Ehefrau sie dann nach der Auferstehung sein werde. Man sieht, jene Schrift ist übervoll von Zeugnissen für das ewige Leben und für die Auferstehung der Toten; der Ausdruck Himmelreich dagegen begegnet mir dort an keiner einzigen Stelle. Er gehört nämlich spezifisch zur Enthüllung des Neuen Testaments; denn der Leib, der vorher irdisch war, wird ja erst durch jene Umwandlung bei der Auferstehung, die Paulus in offenen Worten beschreibt (cf. I Kor. 15,42 ff.), zum geistigen, und damit himmlischen Leib, sodass wir in ihm das Himmelreich besitzen können. Diesen Ausdruck Himmelreich auch nur zu nennen war dem Mund dessen vorbehalten, den das gesamte Alte Testament mit seiner prunkvollen Ausstattung, mit seinen Stammbaumreihen, seinen Tatenschilderungen und Aussprüchen, seinen Opfern, rituellen Handlungen und Festfeiern, mit all seinen kunstvollen Lobpreisungen, seinen Tatsachenberichten und Modellbildern der zukünftigen Wirklichkeit ankündigen wollte, dass er kommen werde, um als König über seine Gläubigen zu herrschen, und als Priester sie zu heiligen. Voll Gnade und Wahrheit (Joh. 1,14), bereit, mit seiner Gnade bei der Erfüllung der Gebote zu helfen und mit seiner Wahrheit für die Erfüllung der Verheissungen zu sorgen, ist dieser gekommen, nicht um das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vollenden (Mt. 5,17).
